■ Standbild: Twälf peunts
Grand Prix Eurovision de la Chanson, Sa., ARD, 21 Uhr
Im Saal, einer Reithalle mit 6.000 Zuschauern darinnen, murmelte und gluckste es aufgeregt wie sonst nur im Fußballstadion, wenn die heimische Mannschaft in der 90. Minute 4:3 führt, der Stürmer der Gäste aber plötzlich den Ball bekommt und allein vor das Tor der eigenen zieht. Auf dem „Grand Prix Eurovision de la Chanson“, live aus dem irischen 1.500-Einwohner-Ort Millstreet übertragen, bedeutete dies: Die irische Sängerin Niamh Kavanagh führte mit 11 Punkten vor „Juneited Kingdems“-Sängerin Sonia. Nur noch Malta hatte seine Voten zu verteilen. Von den 24 anderen Jurys hatten bis dahin England und Irland immer etwas bekommen, sechsmal Irland die Höchstpunktzahl 12, viermal England. Wenn Letztere den Zuschlag des ehemaligen Dominions bekommen würde, wäre die Siegerin eine Barbie- Puppe mit einschlägiger Discoerfahrung, atemloser Stimme und erschreckend unmodischem blauen Monteursanzug. Doch die maltesische Jury — Mutterland hin, Kronkolonie her — besann sich: „Eierländ, twälf peunts“. Und im Saal begann es zu kreischen, ein Applaus, ein Geschrei hub an, als wäre der VfL Bochum wie durch ein Wunder dem Abstieg entronnen. Kurzum: Es war eines der größten Momente in der Geschichte des „kultischen Fernsehens“ (Max Goldt), ein Kick, den kein Regisseur besser hätte regisseuren können.
Denn gewonnen hatte das Aschenputtel gegen die böse Ziege und weitere 23 TeilnehmerInnen. Niam Kavanagh und ihr „In your eyes“ siegte – sie war die Wunschkandidatin der Iren und, zugegeben, auch unsere. Die 25jährige hatte nichts anderes zu bieten als eine Schnulze von Weltklasseformat. Wunderbar, wie die kleine Rothaarige auf der Bühne stand, sich nicht von der Stelle rührte und doch mit knappen Bewegungen ihre Geschichte erzählte: Das Kind in mir ist wieder da, wenn ich bei dir bin, die starke Frau, weil unsere Liebe... Na, und so weiter, wie ein gutes Liebeslied eben sein muß. Was die Irin, die in ihrem Land durchaus zu den bekannten Figuren der Popszene gehört, vor der Konkurrenz auszeichnete: absolute Bühnenpräsenz, jazzige Modulationen. Eine Frau von Starschnittformat, trotz ihres roten Jäckchens, das sich jedem Trend verweigerte. Schade nur, daß sie nicht weinte.
Schön die Bilder ihrer eine Sekunde lang verbitterten Kollegin Sonia (Standbild per Video: super). Ergreifend aber, wie Niam Kavanagh irgendeinen im Saal — vielleicht auch uns — während der Siegerpräsentation anstrahlt. Eine perfekte Mischung aus Hysterie und Eleganz, aus Anmut und Charme.
Ja, und dann war es ein großartiger Grand-Prix-Jahrgang. Einer, der sich auf die Ästhetik der siebziger Jahre kollektiv verständigt zu haben schien: Plateauschuhe noch und noch, ausgestellte Hosenbeine bis hin zum Gary-Glitter-Schlag (die Holländerin Ruth Jacott), ein wenig Nymphenfolklore (Norwegen, 4. Platz, mit Silje Vige) und eine Prise klassischer Festivalschlager (abgespreizte Arme, dramatisches Tremolo, großes Finale wie die für die Schweiz startende Kanadierin Annie Cotton mit „Moi, tout simplement“, 3. Platz) oder auch etwas Dancefloor mit der Spanierin Eva Santamaria (11. Platz).
Die „Münchner Freiheit“ (hätten sie doch nur einen Sänger gehabt, Leadman Stefan Zauner kann es nunmal nicht) landete für Deutschland auf dem 18. Platz: Die europäischen Votanten wollten „Viel zu weit“ ganz weit weg von der Spitze: Offenbar mißfiel ihnen dieser durchaus repräsentative deutsche Jammerton über die geschundene Welt, die Erde, die gerettet werden müsse. Und Gott sei Dank braucht auch niemand 1994 nach Sarajevo zu fahren zur nächsten Auflage von „The pain of the whole world“, ein Friedenslied, was sonst. Es wirkte so punktebuhlend und beifallheischend, daß es also nur musikalisch gewogen und für zu leicht befunden wurde, Platz 16.
Punkt Mitternacht pfiff der Schiedsrichter das Spiel ab. Der Mob auf den Rängen, in Millstreet oder sonstwo, zog so befriedigt von dannen wie nie. Ist das nix? Arne Fohlin
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