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„Willkürliche Praxis der Haftentlassung“

■ Interview mit Stefan Richards (*), zu lebenslang verurteilt, nach 18 Jahren entlassen

taz: Seit wann sind Sie in Freiheit?

Richards: Seit knapp 3 Jahren.

Sie haben während der Tagung gesagt, daß Sie lange Freiheitsstrafen grundsätzlich für sinnvoll halten.

Ja, ich halte eine Reaktion und Sanktion der Gesellschaft auf schwere Strafen für unverzichtbar. Um das in den Griff zu bekommen, muß man aber die Zeit entsprechend staffeln.

Was ist dann Ihre Kritik an der bestehenden Praxis, insbesondere im Hinblick auf die lebenslängliche Freiheitsstrafe?

Zum einen, daß aufgrund eines faschistischen Paragraphen entschieden wird und sich niemand darum kümmert, daß das vielleicht keine Rechtsgrundlage sein kann. Zum anderen, daß bei lebenslänglichen Strafen der Aussetzungszeitpunkt unüberschaubar ist und in der Praxis zu höchst ungerechten Ergebnissen führt.

§ 57a StGB, der seit 1982 die Rechtsgrundlage für die Aussetzung darstellt und gerade zum Ziel hatte, diesen berechenbar zu machen, ist ein Gummiparagraph. Er ermöglicht, daß Naziverbrecher, die viele tausend Menschen umgebracht haben, kürzer in Haft sind als nicht vorbestrafte Einzeltäter.

Was ist die genaue Kritik am Paragraphen 57a? Hat er auch positive Auswirkungen gehabt?

Eine positive Auswirkung ist, daß jeder „Lebenslängliche“ seit 1982 weiß: nach 15 Jahren wird über seinen Anspruch auf vorzeitige Entlassung entschieden. Insofern gibt es klares Zeitmaß.

Das ist ein Hoffnungsfunke und Strohhalm und stellt eine wichtige Neuerung dar. Nur durch die Praxis der Gerichte die Schuldschwereklausel auszulegen – in einem Fall so, im anderen anders –, wird dieser positive Effekt wieder weggenommen. Der Betroffene denkt nämlich, daß er pünktlich entlassen werden kann, muß aber feststellen, daß das nicht geschieht, sich weitere Zeiten der Unsicherheit anschließen. Daran kann man verrückt werden.

Und wegen dieser Unsicherheit haben Sie die gängige Praxis vor dem Bundesverfassungsgericht angegriffen. So kam es zu der jüngsten Entscheidung vom Juni 1992. Was halten Sie davon?

Durch das Urteil ist eine Maßnahme, die bisher wesentlich zur Dauer der Haftstrafen beitrug, weggefallen: die Anstalten dürfen nicht mehr selbst eine Einschätzung der Schuldschwere vornehmen. Das macht jetzt bei den „Altfällen“ die Strafvollstreckungskammer, sonst das erkennende Gericht. Das halte ich für positiv.

Vordergründig negativ ist, daß der Beschluß in sich vollkommen widersprüchlich ist und von den Gerichten und der Verwaltung so gar nicht umgesetzt werden kann. Die Schwurgerichte werden nämlich sagen: wir können doch nicht gleichzeitig eine lebenslängliche Strafe verhängen und dann sagen, daß die nur, sagen wir, 17 Jahre Haft bedeutet. Das ist schizophren.

Diese Widersprüchlichkeit wird aber aus meiner Sicht eine heilsame Wirkung entfalten. Der Gesetzgeber wird nämlich dazu gezwungen eine Neuregelung des Mordparagraphen und überhaupt der ganzen Tötungsdelikte in die Wege zu leiten.

Sie sagten, daß Sie eine neue Idee haben, wie Sie mit Hilfe des BVGs die lebenslängliche Freiheitsstrafe kippen ...

... Kippen kann man das im einzelnen nicht, aber weiter in Frage stellen. Ansatzpunkt ist die willkürliche Handhabe des Entlassungszeitpunkts. Es ist mir möglich nachzuweisen, daß mit Hilfe des Schuldschwereparagraphen (57a) ein Massentäter mit 14.000 Morden nach nur wenig mehr als 18 Jahren entlassen wird, während eine Fülle von Leuten, die nur einen Menschen auf dem Gewissen haben, fast genauso lange – mal kürzer, mal länger – sitzen.

Diese willkürliche Praxis ist unmittelbar verfassungswidrig, weil ja vor dem Gesetz alle gleich sind. § 57a ist ein solches Gesetz, und die Schuldschwereklausel muß entsprechend gestaffelt, für jeden Einzelfall, gemessen an den Parallelfällen eingestuft werden. Und da kann man nicht sagen, ein wegen Mordes in 14.000 Fällen Verurteilter wird im Endeffekt zur selben Zeit enlassen wie jemand, der nur wegen Mordes in einem Fall verurteilt wurde. Interview: Julia Albrecht

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