■ Schreckliche Folgen der erfolgreichen serbischen Aggression: Der Tod, der Sieger, die Scham
Zur Erinnerung ein kleines Plädoyer für Genauigkeit: Erst sechs Monate, nachdem die serbische Armee 1991 ein Drittel des kroatischen Territoriums mit Gewalt überzogen hatte, Hunderttausende Kroaten in die Flucht geschlagen und Dutzende von Stadtzentren beschossen hatte, wurde Kroatien von den europäischen Staaten anerkannt. Bis heute hat kein einziger kroatischer oder muslimischer Soldat serbisches Territorium betreten, um dort Kroaten oder Muslime „zu schützen“, wie es umgekehrt serbische Armee und Freischärler in allen Territorien des ehemaligen Jugoslawien tun. Inzwischen sind Völkerrecht und alle Konventionen zum Führen von Kriegen verhöhnt und zerschossen worden. Heute stehen ein Drittel Kroatiens unter serbischer Herrschaft und fast siebzig Prozent Bosniens. Die Zahl der Toten ist kaum verifizierbar – es wird von 200.000 muslimischen Opfern gesprochen. Mindestens anderthalb Millionen Menschen sind vertrieben worden.
Der Sieger hat sein Spiel zynisch und erfolgreich gespielt: Mord und Terror vor Ort – Diplomatie und Presse-Shows in Genf und New York. Der Serbe Karadžić hat immer von Belgrad aus operiert. Künftige Historiker werden uns hoffentlich eines Tages die Fakten dieses verlogenen Spiels präsentieren: wie viele Waffen, wie viele Soldaten und wie viele Befehle aus Belgrad kamen. Karadžić ist der Sieger.
Ihn nimmt sich nun ein Kroate namens Boban, im Westen Bosniens Herr über eine selbsternannte Republik der bosnischen Kroaten, zum Vorbild. Er läßt Muslime vertreiben, er hat Muslime in Lager abführen lassen ... Er beruft sich auf den Vance-Owen-Plan, der seinen Leuten die Gegend um Mostar im Westen zuschreibt. Massaker an Muslimen haben stattgefunden durch kroatische Miliz, die bislang als Verbündete galt. Wie zuvor die Welt versucht hat, Druck auf Milošević auszuüben, um „seine Leute“ in Bosnien zu zügeln, spricht nun Außenminister Kinkel streng und schneidig mit Präsident Tudjman: Haltet diesen Boban in Schach. Das Spiel wiederholt sich: der Kroate Boban spielt „Karadžić“. Bald wird er verlangen, an Verhandlungen teilzunehmen.
Er hat die grausamste Trumpfkarte in diesem Spiel: Er kontrolliert die einzige Verbindungsstraße für die Versorgung – und das heißt tägliche Ernährung – von rund 800.000 Eingeschlossenen in der Region Tuzla. Sie ist zum Fluchtort für die überlebenden Vertriebenen aus den Dörfern und Städten geworden, die von den „bosnischen Serben“ eingenommen worden sind.
Was ist jetzt noch zu tun? Ein militärischer Schlag gegen die damals ihrer Sache noch sehr unsicheren serbischen Schützen vor einem Jahr – kurz nach den ersten Massakern in Ostbosnien – wäre damals ein psychologisches Warnsignal gewesen: Es gibt Widerstand, wenn Ihr so weiter mordet. Heute ist dies eine völlig andere Entscheidung. Jetzt geht es zuerst um die Rettung von Menschenleben.
Der Kroate Boban muß durch UNO-Truppen daran gehindert werden, die Zufahrtsstraßen in die Tuzla-Region nach Belieben zu sperren: Also muß der UNO-Auftrag erweitert werden um die militärische Sicherung dieser einzigen Verbindungsstraßen. Der Flugplatz in Tuzla muß endlich genutzt werden. Der Sicherheitsrat muß einen Beschluß zur Öffnung und Sicherung des Flughafens fassen, wie dies in Sarajevo geschehen ist.
Die Zukunft? Die Muslime erwarten von UNO und Europa nichts mehr. Der psychische Sieg der Serben wiegt fast genauso schwer wie der militärische. Die Mehrheit der Bewohner Bosniens sieht keine Zukunft. Ihre Restregion ist eingeklemmt. Sie ist dem Machtgriff Serbiens nach Bosnien ebenso ausgeliefert wie dem neuen Machtspiel Kroatiens gegen die Muslime. Europa hat sich noch nicht vorbereitet auf Millionen muslimischer Europäer auf der Suche nach Leben, nach Zukunft.
Die Folgen sind unübersehbar: Zum ersten Mal ist es jetzt einem KSZE-Staat gelungen, seine „Minderheiten außerhalb“ zu mobilisieren, sie zum Sieger zu machen. Das könnte zum Signal für Rußland werden, das sich gegenüber allen anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion in einer vergleichbaren Situation befindet. Auch dort gibt es eine gigantische Armee ohne Zukunft. Sie hat sich bisher bewundernswert diszipliniert verhalten. Doch die Berichte darüber, daß „Großserbien“ klappen konnte, trotz KSZE, trotz UNO, trotz EG, trotz internationaler Friedensabkommen – sie machen die Runde.
Wer in den vergangenen zwei Jahren immer wieder den Primat der nichtmilitärischen Mittel gefordert hat, hatte gute Gründe. Politisch ist jetzt eine tödliche Wirkung entstanden: das Mißtrauen in die zivilen Schutzchancen. Für Europa sind die nichtmilitärischen Netze ziviler Konfliktregelung für einige Zeit gefährdet. Keine sich bedroht fühlende Minderheit in der früheren Sowjetunion wird sich künftig auf den zivilen Schutz der übernationalen nichtmilitärischen Instrumente allein verlassen. Der Wettlauf zur Selbstbewaffnung wird sich beschleunigen. Freimut Duve
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