: Die Grütze lebt!
■ Aus dem Fundus wieder frisch im Bremerhavener Stadttheater: „Was heißt hier Liebe?“
In den 70er Jahren wirkte es noch wie ein gelungener Befreiungsschlag, wenn auf der Bühne möglichst laut von „Pimmel“ und "Fummeln", „Möse“ und „Ficken“ geredet wurde. „Was heißt hier Liebe?“, das 20 Jahr alte Flaggschiff sexueller Libertinage aus der Werkstatt des Kinder-und Jugendtheaters „Rote Grütze“, wollte mit den fatalen Ängsten vor der ersten Berührung auch die starken Gefühle abtreiben.
Jetzt schlägt das Jugendtheaterprojekt mit diesem Stück im Kleinen Haus im Bremerhavener Stadttheater erneut Wellen. Peter Koettlitz hat das 3-Stunden-Spektakel um die Hälfte gekürzt, die floskelhafte Jugendsprache gemildert, Lars Lominski hat zeitgemäßere Musik dazu geschrieben.
Auch in der Neu-Fassung geht es um die erste Liebe, den ersten Kuß, um die Angst vor den falschen Bewegungen. Aber bevor sich Paula und Paul den Hof auf dem Schulhof machen, stellt Koettlitz wie eine Provokation noch ein schwules und ein lesbisches Pärchen auf die Bühne: zwei Mädchen und zwei Jungen schmusen miteinander. Paul und Paula aber kriegen ihre große Chance: keine Liebe light, sondern ein zartes, ängstliches, langsames Spiel der Annäherung, mit Verzögerungen, Ohrfeigen und anderen Rückschlägen. Das Happy-End bleibt ein betörend schöner Bühnen- Traum: Paul und Paula, halbnackt und im Bademantel, eng umschlungen auf der leeren Bühne. Sie sprechen über ihre Bedürfnisse, ihre Angst vor dem Versagen, ihre Körper. Aus dem Off spricht die Stimme von „Orgi“ — vor zwanzig Jahren mußte der Orgasmus noch höchstpersönlich als molliger Clown herumturnen!
Liebe ist in dieser Inszenierung ein beklemmendes und aufregendes Gefühl, Lust und Schmerz, Sex und Zärtlichkeit. Das ist für viele Jungs im Publikum ziemlich provozierend. Sie müssen unbedingt zeigen, wie cool sie sind und reagieren mit Albernheit und Zoten. Koettlitz' Wiederentdeckung kommt vielleicht zur richtigen Zeit. Und von der Bühne springt tatsächlich etwas herüber ins Publikum. Vielleicht die Lust an der Liebe? Hans Happel
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