: Es wird wieder so sein, wie es war
„Jahrelang haben wir demonstriert, ohne gehört zu werden“ – Vor 25 Jahren verschafften sich Studenten, Arbeiter und Schüler Gehör: Die Straßen von Paris brannten. Das Babylon-Mitte zeigt heute den Dokumentarfilm „Mai '68“ ■ Von Stephan Schurr
Jahrestage gehören zu den schönsten Begleiterscheinungen großer Ereignisse. Auch in diesen bewegten und bewegenden Tagen haben wir allen Grund zum Feiern: Die Revolution hat endlich die Kinosäle und Wohnstuben erreicht. Die letzte Etappe des Kampfes – vor der Leinwand und vor der Flimmerkiste – hat begonnen, und sie wird bestimmt mit einem Sieg enden. Die Lorbeerkränze liegen bereit.
Entspannt im Sessel sitzend, lassen die müden Recken ihre glanzvolle Heldenzeit Revue passieren, und die Jüngeren unter uns spüren den in den Augen brennenden tränentreibenden Hauch der Geschichte. Damals, im Mai 1968, machten alle mit, packten alle an, und das Megaphon verkündete den zweifellos richtigen Satz: „Das Paradies steht uns offen.“
Wer sich an die „paradiesische“ Zeit vor 25 Jahren bei einem guten Glas Roten erinnern möchte, der bleibe zu Hause und lasse sich die Fertigkost auf irgendeinem Fernsehkanal servieren, die andern jedoch sollten heute abend ins Babylon-Mitte gehen. Gudie Lawaertz dreistündiger Dokumentarfilm „Mai '68“ ist der denkbar beste Beitrag für eine unsentimentale Beschäftigung mit der Revolte, die eigentlich eine Revolution werden sollte. Gewiß, die Bilder sind bekannt: Studenten der Sorbonne protestieren gegen den Vietnamkrieg, solidarisieren sich mit dem SDS, ziehen in Berlin vors Springer-Hochhaus, werden geprügelt, mit Wasserwerfern traktiert, von Polizisten mißhandelt. Dazwischen: Staatspräsident de Gaulle verleiht Orden, eine Modenschau zeigt Pret-à-porter – der Tanz auf dem Vulkan.
Lawaertz Film aus dem Jahr 1974 ist jedoch mehr als eine geschickt aus Interviews und Originalaufnahmen zusammengestellte Bebilderung der Ereignisse im denkwürdigen Monat Mai. Ohne Kommentare werden die Sequenzen so montiert, daß die Eskalation bis zu den Barrikadenkämpfen fast körperlich spürbar wird. Ein Verständnis heuchelnder Erziehungsminister „wünscht den Dialog mit den Studenten“, während er die Sorbonne mit Gewalt der Polizeiknüppel schließen läßt. Die Presse diffamiert Daniel Cohn-Bendit als „deutschstämmigen Juden und Anarchisten“, und de Gaulle winkt in Bukarest, zusammen mit Ceauceșcu im offenen Wagen stehend, den bestellten Massen zu.
Lawaertz begnügt sich jedoch nicht mit der Studentenrevolte. Der größte Teil des Films beschäftigt sich mit dem Arbeiteraufstand, den Fabrikbesetzungen, den Protesten der bretonischen Bauern gegen das Preisdiktat der Nahrungsmittelindustrie, den Diskussionen an den Schulen. Die „Bewegung“, so hat es den Anschein, war eine Volksbewegung. „Wir alle rissen das Pflaster auf“, erinnert sich eine Ladeninhaberin in Paris und weiß von Nachbarn zu berichten, deren Autos gebrannt haben und die dabei gelassen blieben.
Der dramatische Abgesang war – so suggeriert es der Film – eher harmlos, obwohl die Gesten sich martialisch ausnahmen. Pompidou will die Demonstrationen notfalls durch Schießbefehl beenden, und de Gaulle versucht vergeblich einen General zu erreichen: Das „Fräulein vom Amt“ befindet sich im Streik. Die Parolen an den Schaufenstern werden abgewischt, der Polizist gähnt beim Abräumen der Barrikaden. Nach zweieinhalb Stunden weiß der Zuschauer, daß die Staatskrise überstanden ist, trotz der Gerüchte vom Militärputsch und obwohl de Gaulle zeitweise verschollen ist. Am Ende treffen sich die Revolutionäre, Gewerkschafter und Klassenfeinde am Verhandlungstisch, die Sieger kehren an die Maschinen zurück und trauern um die Opfer.
„Mai '68“ ist kein Film für schöne Jubiläumstage und auch keiner für politikwissenschaftliche Seminare. Er endet mit einer Anklage, die zugleich eine Frage ist. Eine Frau wird von ihren Kollegen bedrängt, nach dem Streikende, wieder in die Fabrik zurückzukehren. Sie weigert sich, da sie sich denken kann, welche Folgen die Revolte haben wird: Es wird alles wieder so wie vorher. Sprach's und geht durchs Fabriktor.
Gudie Lawaertz: „Mai '68“, 190 Min., Frankreich 1974
Heute um 20.15 Uhr im Babylon- Mitte.
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