Je mehr tot, desto mehr Geld

Zur Zeit tagt in Essen ein Kongreß der Theaterautoren. Kurz zuvor hat die Dramatikerin Irina Liebmann zum Rundumschlag gegen destruktive Kollegen ausgeholt und ihre Version von Autorentheater vorgestellt. Ein Interview  ■ von Eva Pfister

Irina Liebmann, 1943 in Moskau geboren und in der DDR aufgewachsen, wurde mit ihrer literarischen Reportage „Berliner Mietshaus“ bekannt und erhielt für ihre Prosa „Mitten im Krieg“ den Aspekte-Literaturpreis. Sie hat jedoch seit 1980 auch Theaterstücke geschrieben. Fünf dieser Stücke sind 1990 in der Frankfurter Verlagsanstalt unter dem Titel „Quatschfresser“ erschienen. 1988 wurde in Schwerin „Berliner Kindl“ uraufgeführt, danach wagte sich kein Theater mehr an die skurril-frechen Theatertexte. Erst im März 1993 hat das Kölner Horizont-Theater die Uraufführung von „Lydia Johanna Berlin“ riskiert. Der Kongreß der Theaterautoren in Essen tagt noch bis zum 22. Mai.

taz: Frau Liebmann, im Nachwort zu Ihren Theaterstücken gehen Sie mit den zeitgenössischen Dramatikern streng ins Gericht. Die Stücke fänden zu Recht wenig Interesse: „Könnte es sein, daß uns die Literaturgeschichte als Adressat nähersteht als ein konkretes Publikum?“ – Wie ist es denn bei Ihnen? Haben Sie Ihre Theaterstücke nicht für die Literaturgeschichte geschrieben?

Irina Liebmann: Nein, diese Stücke habe ich nur für mich geschrieben, aus Spaß und um herauszufinden, wie ich mir ein Theaterstück vorstellen würde. Denn was ich im Theater sah, damals in den 80er Jahren in Ostberlin, das gefiel mir nicht. Ich wußte nicht genau warum, es war mir zu politisch, zu eindeutig, zu ideologisch.

Hat das mit der „Überbau-Optik“ zu tun, die Sie im Nachwort zu Georg Seidels hinterlassener Prosa den meisten DDR-Autoren bescheinigen?

Ja, aber das wird einem erst rückblickend so klar. Damals wußte ich nur, daß ich Theaterstücke wie die von Heiner Müller, Volker Braun oder Christoph Hein nicht schreiben kann. Ich habe mich bemüht und ich konnte nicht mit dieser deklamatorischen Bedeutsamkeit umgehen.

Nachdem ich jetzt zum ersten Mal mein Stück „Lydia Johanna Berlin“ auf der Bühne räumlich erfahren konnte, sehe ich, daß ich ein expressionistisches Stück geschrieben habe. Es lebt sehr stark aus der Emotion, aus Rhythmus und Bewegung. Und das ist natürlich etwas völlig anderes als das DDR- Theater, und ein anderes habe ich nicht gekannt.

Jetzt beziehen Sie sich auch auf die Literaturgeschichte.

Rückblickend kann man das Geschriebene einordnen, es gehört ja irgendwohin. Ich staune einfach darüber, wie ich mich an etwas herangearbeitet habe, ohne es zu erkennen. Es muß ja heute nicht Expressionismus heißen, jedenfalls hat es viel größere Anteile an Emotionalität, an Irrationalität. Vor allem hat es ganz viel zu tun mit Farbe und mit Musik, und darum fällt mir dazu der Expressionismus ein.

Ihr einziges Stück, das vor dieser Kölner Uraufführung auf die Bühne kam, war „Berliner Kindl“, das 1988 in Schwerin gespielt wurde. Wie war denn diese Erfahrung?

Ach, das war ein absoluter Mißerfolg. Seltsamerweise haben mich später mehrere Leute darauf angesprochen, sie hätten mein Stück in Schwerin gesehen, es hätte ihnen gut gefallen. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Es war offenbar ein geteiltes Publikum. Viele konnten nichts damit anfangen.

Ich habe mit Erstaunen festgestellt, daß Ihre Theaterstücke nicht bei einem Theaterverlag sind. Aus welchem Grund?

„Berliner Kindl“ ist bei Henschel Schauspiel, die anderen Theaterstücke habe ich behalten. Ich wollte eigentlich der Autorenversammlung beitreten, die die neue GmbH von Henschel Schauspiel gegründet hat. Aber als wir über die Statuten abstimmen sollten, fiel mir auf, daß jedes Mitglied sich verpflichten mußte, alle seine zukünftigen Theatertexte zuerst Henschel anzubieten. Ich war aber entschlossen, keinem Verlag mehr etwas anzubieten. Da mußte ich leider wieder gehen.

Es gibt auch andere Theaterverlage, die nicht unbedingt ein Optionsrecht verlangen.

Dann wollte ich eben nicht mehr. Seltsamerweise haben mich viele Theaterverlage gefragt – spielen will ja niemand die Stücke, aber sie vertreiben wollen viele. Ich habe mir das hin- und herüberlegt, und – ich weiß nicht warum – mir sind die Theaterstücke so lieb. Und dann habe ich immer noch einen Traum vom Autorentheater.

Da gab es doch ein konkretes Projekt?

Ja. In der letzten Zeit der DDR, als man schon merkte, es wird sich etwas verändern, und gleichzeitig jeder unzufrieden war, habe ich als Kandidatin beim Schriftstellerverband vorgeschlagen, daß der Verband uns beim Aufbau eines Theaters unterstützen soll, damit wir unsere nichtgespielten Stücke selber aufführen können. Überraschenderweise griff ein Typ des Verbandes die Idee auf. So haben wir die nichtgespielten Stücke, die beim Henschel-Verlag lagen, zusammengestellt, haben diese Liste verschickt und die Dramatiker gefragt, ob sie bei einem Theater nichtgespielter Autoren mitmachen würden. Es waren über 80 Stücke, und beinahe alle Dramatiker waren dabei. Die Partei, schuldbewußt wie sie war oder provoziert wie sie sich fühlte, hat sich der Sache sofort angenommen und mit uns verhandelt. Natürlich waren das alles Scheinverhandlungen – und in der Vorbereitungsgruppe saßen auch Leute, die für die Staatssicherheit arbeiteten, das wurde immer deutlicher. Es wurde außerdem deutlich, wie groß der Egoismus der einzelnen ist. Für den Eröffnungsabend hatte Georg Seidel vorgeschlagen, daß jeder ein Kurzstück von etwa drei Minuten schreiben sollte, so daß innerhalb eines Abends alle beteiligten Autoren die Möglichkeit hätten, sich vorzustellen.

Das wäre ein farbiger Abend gewesen, er hätte von Anfang an etwas Spielerisches gehabt, und die autoritäre Struktur des Theaters, die ja so viel verhindert, wäre schon aufgebrochen gewesen. Ja, und dann waren alle dagegen. Alle anderen Männer – ich war ja die einzige Frau – waren absolut strikt dagegen. Wenn aber ein Autorentheater nur ein Krieg der Eitelkeiten und ein Kampf um die Finanzen ist, dann geht das nicht. Jedenfalls ist mir dabei klar geworden, daß Autorentheater ein richtiger Gedanke ist, aber man muß dann konsequent sein. Ein Autorentheater kann eigentlich nur das Theater des Autors sein, eines Autors sozusagen.

Eines einzelnen Autors?

Ob einer oder zwei, – aber jedenfalls soll es ein Theater sein, das um bestimmte Stücke herum aufgebaut ist und nicht Arabesken um den nicht vorhandenen Inahlt bastelt oder um einen Inhalt, den man nicht mehr ernst nehmen kann. Und darum behalte ich die Stücke, die in „Quatschfresser“ abgedruckt sind, erst einmal für mich. Das ist der Grundstock für das Theater meiner Stücke, und das ist dann eben ein Theater eines Autors. (lacht) Wenn es das je geben sollte.

Bei einem Theater vieler Autoren würde man wieder nur kämpfen müssen, um überhaupt auf den Spielplan zu kommen. Das ändert die Optik beim Schreiben nicht, gibt nicht die Entwicklungsmöglichkeiten, die ich mir vorstellen könnte.

Es könnte doch viele solche Orte geben, von denen man weiß, der Autor Sowieso schreibt jetzt ein Stück, das kommt an Weihnachten raus, und das wird sonst nirgendwo gespielt, weil er die Rechte nicht abgibt. Wer von ihm etwas sehen will, kommt dorthin, wo seine Stücke gespielt werden. Das wäre doch nicht schlecht, oder?

Ja schon. Aber die Leute, die so gearbeitet haben, waren meistens gleichzeitig auch Theaterleute, also Regisseure. Möchten Sie auch Regie machen?

Nein. Aber ich möchte doch die Aufführung des Autors, die autorisierte Aufführung sozusagen.

Am Kongreß der Theaterautoren, der diesen Monat in Essen stattfindet, wird auch der Vorschlag eines Autorentheaters diskutiert werden.

Ich weiß, Florian Felix Weyh verfolgt diesen Gedanken schon lange, aber er will ein Autorentheater, wir wir das früher wollten.

Natürlich. Ihre Idee läßt sich auch nur mit Hilfe eines schwerreichen Mäzens realisieren.

Ob das nun ein ganzes Theater ist oder nur ein Zimmer, wichtig wäre, die Stimme des Autors zu hören, eigentlich des Dichters, und er muß es sich selbst aufbauen. Wenn er die Kraft dazu nicht hat, wird es auch nichts mit den neuen Stücken, die dadurch entstehen sollen, dann wird seine Stimme auch zu schwach sein. Meine ist im Moment auch noch zu schwach.

Nur kommt die Idee gerade zu einer Zeit, in der fast alle Theater von Sparübungen bedroht sind, da wirkt sie sehr luxuriös.

Ich bin absolut für Luxus, man lebt für Luxus. Mir imponiert das sehr, wie Margarete Herdieckerhoff in Köln mein Stück mit einem Budget von 2.500 Mark gemacht hat, aber es ist doch auch eine Schande. Je künstlicher eine Sache ist, desto mehr Geld kriegt man dafür, je mehr tot, desto mehr Geld.

Wie würde so ein neues Stück aussehen? Würden Sie so ein Stück denn für eine konkrete Zielgruppe schreiben?

Nein. Ich wäre allerdings froh, wenn ich ein gutes Volksstück schreiben könnte. Es ist dieses elitäre Denken, das das Theater ruiniert. Es gibt ja kein großes Publikum mehr, das vorhandene ist ein verkleinertes, versnobtes Publikum, das von vornherein davon ausgeht, daß es sich und sein Leben im Theater nicht wiederfinden wird. Bei diesem Theater möchte ich eigentlich nicht dabei sein. Heute sind viele Dramatiker verantwortungslose Schreibtischtäter. Was sie herstellen, soll beeindrucken, da entstehen oft gräßliche Dinge. Aber was wir denken und tun, beeinflußt die Welt auch. Wenn ich Destruktives denke, gibt es mehr Destruktives in der Welt. Ich setze das einem anderen Menschen ins Gehirn, auch er muß sich damit befassen, und so geht das immer weiter. Da entsteht nichts Neues, da wird man gezwungen, Angriffe auf die eigene, vielleicht noch ein bißchen konstruktive Substanz auszuhalten, und die Schönheit, die es auch gibt in der Welt, wird verleugnet. Aber gerade dieses Theater wird gelobt, dem wird gehuldigt, und angeblich sei die Welt so. Aber das ist nicht wahr.

Wollen Sie Happy-Ends sehen?

Nein, aber es muß eine Balance geben. Es ist einfach nicht wahr, daß unser Leben so schrecklich ist, bisher nicht, Gott sei Dank. Darum ist das Destruktive genau so affirmativ, wie wenn ich nur eine heile Welt darstellen wollte, ja, es ist heute bereits viel affirmativer