Von Capri nach „Tangentopoli“

Italiens Nobel-Refugien vor dem Bankrott / Angesichts der Antikorruptionswelle meidet die Prominenz lieber die Öffentlichkeit / Schüchtern kommt eine „Capri den Capresen“-Bewegung in Gang  ■ Aus Capri Werner Raith

Für Tonino, den Chef von „Foto Azzurro“, gleich neben Italiens nobelstem und teuerstem Fünf-Sterne-Hotel „Quisisana“ über der Südküste Capris, nimmt die Sache „allmählich dramatische Formen“ an: „Ich weiß wirklich nicht mehr, lasse ich die Fotos von denen nun im Schaufenster oder ersetze ich sie durch unverdächtige Oldtimer“. Tonino weist auf die Fenster am Passageneingang: Da hängen die Großbildaufnahmen der Leute, die bis vor wenigen Monaten noch „das“ Italien darstellten: vom seinerzeitigen Staatspräsidenten Cossiga über den siebenmaligen Ministerpräsidenten Andreotti bis zu den neapolitanischen Lokalfürsten wie dem Christdemokraten Cirino Pomicino oder dem Sozialisten De Donato und dem Liberalen Di Lorenzo. Persönlichkeiten, jeweils inmitten ihres Hofstaats und unzähliger, meist ehrfürchtig erstarrter BewunderInnen, an denen sich der Ruhm der Insel mehr als drei Jahrzehnte festmachen ließ.

Der alljährliche Urlaub und die Wochenenden der VIPs in ihren Datschen rings um die Insel, die Parties auf meist riesigen Motorjachten sind Legende. Doch nun, seit im vorigen Sommer die Antikorruptionswelle „Mani pulite“ (Saubere Hände) der Mailänder Staatsanwaltschaft zu rollen begann und sich nicht nur die lombardische Metropole, sondern das ganze Land in das mittlerweile in den internationalen Sprachschatz eingegangene „Tangentopoli“ (von tangente, Schmiergeld) verwandelt hat, bleiben die fotogenen und fotosüchtigen Politpromis aus – und natürlich ebenso die Schar ihrer SchranzInnen. Vorbei der Massenauftrieb eitler Männer und schöner Frauen beim alljährlichen „Meeting italienischer Jungunternehmer“ im Quisisana, wo auch die Ministerpräsidenten und ihr Stab immer mit lockeren Sprüchen glänzten und die Insel für einen Tag zur Hauptstadt machten.

Wie Capri stehen auch zahlreiche andere Nobelorte was die VIPs betrifft vor gähnender Leere: Courmayeur in Val d' Aosta ebenso wie Capalbio bei Groessto, oder das Kap Circeo südlich von Rom. Schaulustige, die die Bars an den berühmten Piazze auf der Suche nach einer fotografierbaren Berühmtheit abklappern, blicken in zunehmend unmutige Kellnergesichter. Die Fremdenverkehrsämter vertrösten auf später – derzeit müßten alle, die etwas zu sagen haben, in Rom sein. Schließlich tue die neue Regierung gerade ihre ersten Schritte und außerdem kämpfe man gegen die organisierte Kriminalität, da gebe es viel zu tun. – Tatsächlich sitzen freilich viele, die bisher den Glanz der Nobelorte ausmachten, heute im „Grand Hotel San Vittore“. So heißt das Gefängnis von Mailand, das den Namen San Vittore trägt, spöttisch im Volksmund. Oder sie sind entlassen und haben Hausarrest bis zur Verhandlung. Kaum eine Politgröße, kaum ein landesweit waltender Unternehmer, der nicht in die Ermittlungen der Antikorruptions-Staatsanwälte verwickelt ist – bis hin zu Fiat und Olivetti, den Flaggschiffen italienischen Unternehmertums.

In Capri etwa trägt nahezu jeder Kanal- und Wasserleitungsdeckel den Namen Cirino Pomicino – eine Bauunternehmersfamilie, die sich nahezu alle größeren Aufträge im neapolitanischen Umland verschafft hat. Doch die beiden geschäftsführenden Brüder der Familie sitzen im Gefängnis. Der dritte Bruder, bis voriges Jahr Schatzminister, ist noch durch seine parlamentarische Immunität geschützt und daher vorläufig frei. Sehen lassen kann er sich auf der Insel heute nicht mehr. Zu plastisch die Erfahrung, die der einst mächtigste Mann Venedigs, Ex- Außenminister Gianni De Michelis machen mußte: Ausgerechnet in seiner eigenen Stadt, wo er bis voriges Jahr – meist umgeben von vollbusigen Schönen und auf dem Weg von einem Nachtlokal ins andere – Hof hielt, suchten ihn aufgebrachte Bürger ins Lagunenwasser zu werfen. Er entkam mit knapper Not in einer Gondel, die er noch dazu selbst rudern mußte.

Auch Lokalbesitzer stecken in der „Tangentopoli“-Krise. Eilig haben auf Capri viele von ihnen bereits inkriminierte Politiker-Gesichter aus den Fotowänden geholt und durch Hemingway, Sartre, Simone de Beauvoir oder Rilke ersetzt. Mitunter geraten sogar ganz normale Bürger in die Auslagen, um die entstandenen Lücken notdürftig zu verkleiden. Um so stärker ist der Ärger der Kaufleute und Hoteliers über diejenigen Besucher, die man zwar schon bisher nicht leiden konnte, die man jedoch – als Konsequenz der ihrerseits wiederum VIP-förderlichen Massenneugier – hingenommen hatte: die Reisegruppen und Schulklassen.

Mitunter überschwemmen Capri täglich mehr als zwanzigtausend von ihnen, in anderen Orten ist es ähnlich. Die meisten lassen, mal abgesehen von einem Omnibus-Billett oder der Fahrt mit Capris „Funiculare“ (der seilgezogen Schienenbahn zum Hauptort hinauf), keine Lira zurück. Wohl aber Zigtausende mitgebrachter und auf den Piazze entleerter Coca- Dosen und Broteinwickelpapiere. Ihre Präsenz scheint den meisten Capresen nun nicht mehr nur entbehrlich – weil die VIPs durch die neue Scheuheit der Elite keinen zusätzlichen Berühmtheitswert mehr erfahren – allmählich wird den Insulanern auch klar, welchen Schaden die Horden anrichten. Meist gucken sie nicht einmal die Blaue Grotte an (für deren Besichtigung selbst der reduzierte Schülerpreis von umgerechnet 15 DM zu hoch ist), oder wandern zur Villa des Tiberius hinauf (die zwar nur 4 DM kostet, aber zu weit ab liegt für moderne Schülerbeine).

So überlegen die Stadtväter seit geraumer Zeit, ob man nicht eine Art Numerus clausus einrichten solle, wie das Venedig bereits praktiziert. Doch weitergekommen ist man auch da nicht. Die politische Krise, die Italien überspült, macht auch vor Kleinkommunen wie Capri und Anacapri (zusammen gerade 11.000 Einwohner) nicht halt: Die Rathauskoalition ist seit geraumer Zeit geplatzt, der Bürgermeister vom Innenminister durch einen Kommissar ersetzt, der nur verwaltet und nicht gestaltet und ansonsten Neuwahlen durchführen soll.

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Die Capresen überlegen jetzt fieberhaft, was nun aus ihnen werden soll und ob sie an ihren alten, oft gerühmten Tugenden sinnvollerweise noch festhalten sollen: Berühmt wurden sie durch ihre seit Jahrtausenden geübte Fähigkeit im Wegsehen. Schon Kaiser Tiberius, der die Welt 13 Jahre von hier, und nicht von Rom aus regierte, war berühmt wegen seiner Exzesse und seiner Mordlust – doch die Capresen taten, als gäbe es all das nicht. Genauso intensiv gestalteten sie, nach der neuzeitlichen „Wiederentdeckung“ der Insel im vorigen Jahrhundert, ihre Toleranz gegenüber anderswo verfemten Haltungen: Wo in England noch viktorianische Moral wütete, in Deutschland der Kaiser teutonische Sittlichkeit predigte oder in Frankreich die Republik ihre Macho-Elite hochjubelte, landeten auf Capri verfemte Homosexuelle wie August Krupp von Bohlen- Halbach oder der Conte Fersen, Oscar Wilde und eine ganzen Sappho-Kolonie lesbischer Frauen.

Und nach der gescheiterten ersten russischen Revolution saßen da Maxim Gorki und W.I. Lenin und brüteten über die Vorbereitung der nächsten, kletterten mit anderen Exil-Russen nächtens auf den Monte Solaro und hörten Schaljapin zu, wenn der im Morgengrauen den Sonnengott anschmetterte und von unten die Fischer antworteten. Die Capresen nahmen es hin und wußten von nichts, auch als der eine oder andere von auswärts abgeschossen wurde (wie Krupp, der dann die Insel verlassen mußte).

„Die Frage ist“, sagt nachdenklich Crescenzo Ricci, rarer Exponent kritischer Capresen und Mitglied der politischen Nostalgiker- Gruppe „Rifondazione comunista“, „ob die Menschen hier erneut jemanden finden, der Katzbuckeln durch Geldausgeben honoriert, oder ob wir versuchen, endlich so etwas wie eine Art aufrechten Gang zu lernen.“

Nur schüchtern kommt eine „Capri den Capresen“-Bewegung in Gang – gefördert derzeit zweifellos durch die gerichtlichen Ermittlungen, die nicht nur bei korrupten Politikern umfangreichen Villenbesitz zutage gefördert haben, sondern auch geradezu unglaubliche Mengen von Grundstücken und Häusern in der Hand sizilianischer Mafiosi und neapolitanischer Camorristen fanden. Eine Spekulation, die bereits zahlreiche Capri-Bürger in die unfreiwillige Emigration getrieben hat – wer kein eigenes Haus hat, kann die Miete längst nicht mehr bezahlen. Umzug aufs Festland ist die einzige Alternative.

„Wenn es uns wenigstens gelingen würde, den Capresen eine Art Bonus bei der Versteigerung konfiszierter Häuser einzuräumen“, träumt ein junger Taxifahrer, „dann könnte sich hier eine wirkliche Gemeinschaft restabilisierien und in Ruhe nachdenken, wie wir weiterleben sollen. Dann hätte ,Tangentopoli‘, diese größte Sauerei der Nachkriegsgeschichte, wenigstens auch etwas Gutes gehabt.“ Ein Kollege, der das Gespräch hört, ist da skeptischer: „Irgend etwas wird irgend jemandem schon einfallen, womit er uns wieder ködern und die alte selbstzerstörerische Untertänigkeit aufrechterhalten kann.“

Es steht zu fürchten, daß er recht behält.