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Jüdischer Volkswiderstand?

Im Ghettoaufstand kämpfte nicht nur eine Handvoll Verzweifelter  ■ Von Susanne Heim

Am 19. April wurde der 50. Jahrestag des Warschauer-Ghetto- Aufstandes gefeiert. Doch dieses Datum markiert lediglich den Beginn der offenen Straßenkämpfe gegen die deutschen Besatzer, die aufmarschiert waren, um den von ihnen sogenannten „jüdischen Wohnbezirk“ zu „liquidieren“. Der bewaffnete Widerstand begann schon mehr als ein halbes Jahr zuvor, am 15. August 1942, als der erste Revolver ins Ghetto geschmuggelt wurde. Die ersten Attentate richteten sich nicht gegen Deutsche, sondern gegen jüdische Gestapospitzel und die verhaßte Ghettopolizei, die sich während der Massendeportation der vorangegangenen Monate zum Instrument der Deutschen hatte machen lassen. Gerade diese Attentate – so behauptet der 1917 in Wilna geborene jüdische Historiker Reuben Ainsztein, der 1936 nach Belgien übersiedelte und 1942 von dort über Gibraltar nach Großbritannien floh und sich in den Reihen der „Royal Air Force“ am Luftkrieg gegen Deutschland beteiligte – haben entscheidend zum Stimmungsumschwung im Ghetto beigetragen und zum Entschluß, gegen die Deutschen zu kämpfen.

Doch Ainszteins Geschichte der „Revolte gegen die Vernichtung“, die zwölf Jahre nach dem Tod des Autors nun auch in deutscher Sprache erscheint, setzt noch früher an: bei der Abriegelung des Ghettos im Oktober 1940. Er beschreibt die Lebensbedingungen im Ghetto, die Rolle des Judenrates und der Ghettopolizei und die Hoffnungen auf ein Überleben, indem man sich den Deutschen nützlich machte. Die ersten Gerüchte über die Vernichtungslager wollten die meisten nicht glauben, waren sie doch überzeugt, daß ein Völkermord in einer europäischen Hauptstadt wie Warschau nicht möglich sei. Ainsztein beschreibt den Ghettoaufstand nicht als Verzweiflungstat einiger junger Leute, die nur deswegen zur Waffe griffen, weil sie keine Familien mehr hatten, auf die sie hätten Rücksicht nehmen müssen, sondern als Volksaufstand, bei dem die Juden nicht nur gegen die militärische Übermacht der Deutschen zu kämpfen hatten, sondern auch gegen die feindselige Haltung der Polen: Das „arische“ Warschau war voller Denunzianten, und die polnische „Heimatarmee“ weigerte sich, den Kampf des Ghettos zu unterstützen.

Ainsztein ist kein unbeteiligter Chronist, sondern ergreift innerhalb der Fraktionskämpfe der Widerstandsgruppen ebenso Partei wie er mit dem Judenratsvorsitzenden Czerniaków, mit Schmugglern oder denjenigen, die in den für die Deutschen produzierenden Werkstätten und Fabriken arbeiteten, hart ins Gericht geht („Hauptelemente der moralischen Korruption“). Manche seiner Wertungen und Einschätzungen mag man nicht teilen, ebensowenig die Begeisterung für militärische Einzelheiten, aber das mindert die Bedeutung des Buches nicht: Ainsztein hat die Geschichte des Ghettoaufstands aus den Berichten von Beteiligten rekonstruiert, hat Überlebende befragt und Quellen erschlossen, die heute wieder in Vergessenheit geraten sind. Er berichtet über die namenlosen „wilden Gruppen“ im Ghetto, in deren Reihen mehr als doppelt so viele Menschen gekämpft haben wie in der besser bekannten jüdischen Kampforganisation ZOB.

Vielleicht ist es Ainszteins größtes Verdienst, daß er nicht nur die großen Schlachten schildert, bei denen die verblüfften Deutschen in die Flucht geschlagen wurden, sondern eine Fülle von Geschichten gesammelt hat, kleine und große HeldInnentaten: die nächtliche Munitionsübergabe durch ein Loch in der Ghettomauer, waghalsige Befreiungsaktionen und raffinierte Täuschungsmanöver, mit denen die Deutschen in die Falle ihrer eigenen Geldgier gelockt wurden – und nicht zuletzt auch eine Vielzahl von Lebensgeschichten: so diejenige des jüdischen Arztes Henryk Sternhel, der zuerst in der Warschauer Volksgarde, dann im Spanischen Bürgerkrieg und schließlich im französischen Untergrund kämpfte, bevor er sich 1942 im besetzten Polen den Partisanen anschloß. Oder Niuta Tejtelboim, die als „Wanda mit den Zöpfen“ mehrere Attentate auf deutsche Offiziere beging und an Sabotageaktionen der polnischen Volksarmee beteiligt war.

Nicht zuletzt dadurch, daß Ainsztein die Geschichte aus der Perspektive der Widerstandskämpferinnen und -kämpfer beschreibt, wird sein Buch zu einem Anti-Hilberg. Sowohl dem Historiker und Autor des Standardwerks „Die Vernichtung der europäischen Juden“ wie auch Hannah Arendt wirft Ainsztein vor, die Bedeutung des jüdischen Widerstands herunterzuspielen, dessen Geschichte zu verfälschen und damit dem Klischee Vorschub zu leisten, die Juden seien „wie Schafe zur Schlachtbank“ gegangen.

Das gerade im Verlag Schwarze Risse/Rote Straße erschienene Buch über „die Revolte gegen die Vernichtung“ ist nur ein Ausschnitt aus Ainszteins Geschichte des jüdischen Widerstands im besetzten Osteuropa, in der er auch die Aufstände in anderen Ghettos, in Todeslagern und die jüdische Partisanenbewegung während des Zweiten Weltkriegs beschreibt. Obwohl bereits 1974 in London erschienen, ist „Jewish Resistance in Nazi-occupied Eastern Europe“ noch immer eines der wenigen Grundlagenwerke, die es zu diesem Thema gibt und diente neben vielen anderen auch Primo Levi („Wann, wenn nicht jetzt?“) und Ingrid Strobl („Sag nie, Du gehst den letzten Weg“) als Quelle. Im September wird Ainszteins 800-Seiten-Buch im Oldenburger Universitätsverlag auch auf Deutsch erscheinen. Am 5.Juni um 19.00Uhr findet im Haus der Demokratie in Berlin eine Veranstaltung mit den Herausgebern und Übersetzern der beiden Bücher statt.

Reuben Ainsztein: „Revolte gegen die Vernichtung. Der Aufstand im Warschauer Ghetto“. Verlag Schwarze Risse/Rote Straße, Berlin/Göttingen 1993, ca. 150 Seiten, 25 DM

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