: Rückhand in der Kabine
Jean-Philippe Gatien wird in einem spannenden Finale Tischtennis-Weltmeister gegen Jean-Michel Saive / Frischklebeverbot verschoben ■ Von Thomas Winkler
Berlin (taz) – Apostrophiert war wieder einmal die Auseinandersetzung zwischen Handwerk und Kunst. Eine Gegenüberstellung, die immer stattfindet, wenn der Belgier Jean-Michel Saive, immerhin amtierender Vize-Europameister, verbissen zur Platte schreitet. So und nicht anders war es auch im Einzel-Finale der Männer bei den 42. Tischtennis-Weltmeisterschaften in Göteborg, ungeachtet der Tatsache, daß eben jener Saive, im Halbfinale Gott selbst entzaubert hatte. Der Olympia-Sieger und Weltranglistenerste Jan-Ove Waldner hatte nie eine Antwort gefunden auf die druckvolle Topspin-Vorhand des Belgiers, ausgerechnet der Schwede, der doch notfalls immer noch einen unmöglichen Schlag aus seinem Gummihandgelenk zaubern kann. Doch Saive wird noch so genial spielen können, er wird sein Image nie loswerden. Zu aufgedreht dreht er seine Runden in den Spielpausen, zu heftig ballt er die Faust nach gewonnenen Punkten und wenn er beim Aufschlagwechsel zum Abtrocknen stampft, hat man Angst, daß er gleich ein Loch in sein Handtuch beißt.
Ihm gegenüber stand Jean-Philippe Gatien, seines Zeichens der erste Franzose von Weltklasse seit den glorreichen Tagen eines Jacques Secretin, der lieber verlor, als auf die geliebte Ballonabwehr zu verzichten. Auch Gatien, der nicht erst seit seiner Final-Niederlage bei Olympia gegen Waldner als dessen legitimer Nachfolger gehandelt wird, wird allgemein in der Schublade „Künstler“ abgelegt, aber Titel kann man heutzutage allein mit Talent und Ballgefühl nicht mehr gewinnen — selbst dann nicht, wenn man Jan-Ove Waldner heißt. So stellte der Franzose in den letzten Jahren sein Spiel auf das erfolgversprechende europäische Brutal-System um. Mehr als drei Viertel des Tisches werden mit der Vorhand abgedeckt, Rückhand nur im absoluten Notfall, der erste Ball wird mit vollstem Risiko angezogen, denn sonst macht's der Gegner.
So kam denn alles anders, als gedacht. Auch deshalb, weil diese WM schon zwei Wochen alt ist, und auch wenn sowohl Saive als auch Gatien zur Schonung in den abschließenden Plazierungsspielen des Mannschaftswettbewerbs nicht eingesetzt wurden, hatten beide schon vor dem Finale sechs harte Spiele über drei Gewinnsätze in den Beinen. Vor allem Gatien war des öfteren über fünf Sätze gegangen und so versuchten beide die Ballwechsel möglichst kurz zu halten.
Im folgenden entwickelte sich ein nicht besonders attraktives, aber dafür spannendes Match. Wie kaputt beide bereits waren, sah man spätestens, wenn Gatien einen schnellen Aufschlag ohne jeden Schnitt einstreute. Ein Versuch, der selbst in der Bezirksliga meist milde lächelnd bestraft würde, der aber gegen Saive, der seine Rückhand wohl in der Umkleidekabine hatte liegen lassen, des öfteren zum Erfolg führte, weil der Vize-Europameister beim Umlaufen meist zu langsam war. Der so sehnlichst erwartete stilistische Unterschied zwischen beiden war nicht auszumachen, stattdessen spielten sie Alles-oder-nichts und prügelten sich die Bälle um die Ohren. Gatien gewann die psychologisch so wichtigen Sätze Eins und Drei, und war schließlich auch im fünften mit 21:18 der Glücklichere. Aber der Franzose hatte nicht wegen seines größeren Talents oder seiner größeren Geschmeidigkeit gewonnen, sondern wegen seines Stehvermögens.
Hinter den Kulissen tobte derweil weiter die fröhliche Intrige um das Frischkleben. Getarnt als gesundheitspolitische Aktion versucht der japanische Präsident des Internationalen Tischtennis-Verbandes (ITTF) Ogimura das Frischkleben zu verbieten und die Dicke der Schaumstoffunterlagen unter den Belägen einzuschränken, weil dadurch Effet und Geschwindigkeit heruntergefahren würden. Das wäre ein Nachteil für die vor allem zum aggressiven Topspin neigenden Europäer, aber ein Vorteil für die Asiaten, die eher nahe am Tisch stehen und Block- und Konterspiel bevorzugen. Zusätzlicher Druck für Ogimura entstand, weil sich erstmals seit 1953 bei den Männern kein Asiate für das Einzelhalbfinale qualifizierte und auch bei den Frauen das Topspinspiel im Vormarsch ist.
Inzwischen mußten aber auch die Europäer einsehen, daß Frischkleben nicht gesund ist, denn zuletzt kippte mancher Spieler beim Training vom eigenen Belag benebelt um. Erreicht wurde trotzdem ein Aufschub. Jetzt sollen endgültig am 1.Juni 1994 Folien den Schnüffel-Kleber ersetzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen