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Pflegekompromiß noch vor Pfingsten

Regierungsfraktionen wollen Donnerstag über Kompromiß zur Pflegeversicherung entscheiden / Breite Proteste gegen Einführung von Karenztagen / Koalition will Bundesratsentscheidung umgehen  ■ Von Hans-Martin Tillack

Bonn (taz) – Die Verhandlungen der Bonner Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP stehen offenbar kurz vor dem Abschluß. Am Donnerstag abend sollen beide Fraktionen auf getrennten Sitzungen über den Kompromiß befinden, der sich in den letzten Tagen angedeutet hatte. Damit, so hieß es gestern in beiden Fraktionen, komme der Kompromiß noch vor Pfingsten unter Dach und Fach.

Trotz Bedenken in der FDP sowie breiter Proteste von SPD, Gewerkschaften und CDU-Sozialausschüssen will die Koalition offenbar an der Einführung von Karenztagen festhalten. Danach sollen Arbeitnehmer künftig in den ersten beiden Tagen einer Krankheit auf die Lohnfortzahlung verzichten. Auf diesem Weg wollen Union und FDP die Kosten kompensieren, die den Arbeitgebern durch die Pflegeversicherung entstehen. Heute und morgen wollen die Fachleute von Union und FDP über die noch ungeklärten Einzelheiten beraten. So ist im Gespräch, Beamte von der Regelung vorerst auszunehmen. Damit könnten Bundesregierung und Bundestag die Pflegeversicherung am SPD- dominierten Bundesrat vorbei durchsetzen, hieß es in Regierungskreisen.

Offen ist zudem, ob Arbeitnehmer statt der Karenztage zwei Urlaubstage nehmen können. Im Gespräch ist auch eine Obergrenze für die Anzahl der unbezahlten Krankheitstage pro Jahr sowie ein Verzicht auf Karenztage für chronisch Kranke, Schwangere und Fälle von Berufskrankheit. Denkbar ist auch, daß die Pflegeversicherung erst nach 1996 wirksam wird.

Widersprüchliche Angaben gab es gestern über die Haltung der FDP zu der Karenztagsregelung. Am Montag abend habe es im FDP-Fraktionsvorstand Unmut über FDP-Chef Lambsdorff gegeben, der bereits zuvor den Karenztagen seinen Segen erteilt hatte, hieß es. Lambsdorff habe unzutreffenderweise den Eindruck erweckt, die Freidemokraten hätten der Regelung bereits zugestimmt.

Der FDP-Abgeordnete Jürgen Koppelin warf Lambsdorff in der B.Z. vor, die Öffentlichkeit zu täuschen. Zwei Karenztage reichten zur Kompensation nicht aus. Sie seien „weder verläßlich noch stabil“, da die Tarifparteien eine solche Regelung jederzeit unterlaufen könnten. Koppelin sagte, er rechne nicht damit, daß dieses Modell eine Mehrheit in der FDP- Fraktion bekommen werde.

Bedenken gibt es offenbar auch im FDP-geführten Justizministerium. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ließ zwar Berichte dementieren, wonach ein Gutachten ihres Hauses die Karenztagsregelung für unzulässig erklärt habe. Es sei aber durchaus „denkbar“, daß ein weitgehender Eingriff in die Tarifautonomie von Gewerkschaften und Arbeitgebern „auf verfassungsrechtliche Bedenken stoßen würde“, hieß es. Entsprechende „Überlegungen“ würden im Justizministerium angestellt.

Die SPD erwägt aus diesem Grund eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Ihr Fraktionsvize Rudolf Dreßler sagte, das Modell der Koalition sei nicht nur ein Angriff auf den sozialen Frieden, sondern auch auf die Verfassung.

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