: „Die Restauration kriecht aus hundert Grüften“
■ Dokumentation der Bundestagsrede von Konrad Weiß (Bündnis 90/Grüne) in Auszügen
„Die heutige Debatte steht unter mehrfachem Zwang. Da ist zuerst der unübersehbare Zwang des Faktischen, den auch wir nicht leugnen: Die Flüchtlinge und Asylbewerber, die in Deutschland Zuflucht vor Verfolgung und Not suchen, sind zweifellos für unsere Gesellschaft eine gewaltige Herausforderung. Aber anders als diejenigen, die in der totalen Abschottung Deutschlands das Heil suchen, ist Bündnis 90/Die Grünen der Auffassung, daß die Deutschen sehr wohl in der Lage sein sollten, eine menschliche und solidarische Lösung zu finden.
Der gegenwärtige, völlig unbefriedigende Zustand ist das Ergebnis einer unentschlossenen und ratlosen Politik, einer Politik, die schändlich versagt hat. Obwohl der Zustrom von Flüchtlingen und Asylbewerbern absehbar war, obwohl erkennbar war, daß die Verwaltungen überfordert und die vorhandenen Aufnahmekapazitäten bald erschöpft sein würden, wurden die Kommunen und Länder von der Bundesregierung im Stich gelassen. (...) Aus dieser Zwangslage schien dann nur ein Rundumschlag befreien zu können, der Rundumschlag des Asylkompromisses nämlich. Anstatt alles daranzusetzen, das Asylrecht zu bewahren ..., soll es nun so weit eingeschränkt werden, daß dies seiner Abschaffung gleichkommt.
Davon verspricht sich manch einer das Wohlwollen der Wählerinnen und Wähler und das Überleben seiner Partei. Das ist nicht nur verantwortungslos, das wirkt verheerend auf die politische Kultur unseres Landes. Was soll aus Deutschland werden, wenn ein Grundrecht, ein Menschenrecht so leichtfertig in die Waagschale geworfen wird für eine Wahl? Dabei ist die Stimmung gegen das Asylrecht doch erst das Ergebnis der Handlungsunwilligkeit der Politik, verquickt mit einer Desinformationskampagne sondergleichen.
(...) Gerade für Ostdeutsche, die ihr Leben lang unter der Mauer gelitten und gegen sie aufbegehrt haben, ist die Vorstellung unerträglich, daß nun eine neue Mauer um Deutschland errichtet werden soll: eine Mauer aus Gesetzen und Abkommen, eine Mauer des Wohlstands und des kalten Egoismus. Dabei bin ich fest überzeugt, daß nach wie vor eine Mehrheit der Deutschen bereit ist, Verfolgten (...) zu helfen, und daß diese Mehrheit der Menschlichkeit den Vorrang gibt vor der bequemen hartherzigen Abschottung. Viele sind allerdings unsicher geworden durch das anhaltende Sperrfeuer gegen das Asylrecht. Doch wenn man mit den Bürgerinnen und Bürgern spricht (...), zeigen sie Verständnis für die Not von Flüchtlingen (...).
Es geht hier und heute um mehr als um die Novellierung eines Verfassungssatzes: Es geht um die Grundfesten dieses Staates, um die Grundwerte und um die selbst auferlegten Pflichten des wiedervereinigten Deutschland. Es ist zu fürchten, daß der Bresche im Grundgesetz, die heute geschlagen werden soll, bald andere folgen werden: Schon wird versucht, aus der Bundeswehr eine Wehrmacht und aus Tarifpartnern Tariffeinde zu machen. Die Restauration kriecht aus hundert Grüften, unsere Demokratie ist in Gefahr. Wir dürfen es nicht zulassen, daß dem dumpfen Wahn der Nationalisten (...) Grundwerte unserer Demokratie geopfert werden. Deutschland hat nur in der Gemeinschaft der Völker eine Zukunft, nicht außerhalb. Das Asylrecht ist ein Menschenrecht. Eine notwendige europäische Harmonisierung des Asylrechtes muß dieses Menschenrecht zum Maßstab nehmen. Die beabsichtigte Änderung des Grundgesetzes und die Folgegesetze werden an den tatsächlichen Problemen nichts ändern. Auch weiterhin werden Menschen versuchen, der Verfolgung, den Kriegen und Bürgerkriegen, der Armut und Not zu entfliehen und in unserem reichen Land eine Überlebenschance zu finden. Wie das Beispiel anderer europäischer Staaten zeigt, wird die illegale Zuwanderung zunehmen. Menschen, die heute noch als Asylbewerber wenigstens eine Zeitlang geduldet wurden, werden morgen im Untergrund dahinvegetieren, in einer nicht mehr kontrollierbaren Grauzone von illegaler Arbeit und Kriminalität. Damit sind schwerwiegende soziale Konflikte vorprogrammiert, mit denen verglichen die heutige Situation als harmlose erscheinen wird.
Bündnis 90/Die Grünen hat (...) ein Niederlassungsgesetz vorgeschlagen, das den in Deutschland seit längerem wohnenden Ausländern einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung sichern soll. Sechseinhalb Millionen Bürgerinnen und Bürger, die in Deutschland leben und arbeiten, die hier seit Jahrzehnten wohnen oder hier geboren sind, werden die bürgerlichen Rechte vorenthalten. (...) 1993 gilt in Deutschland noch immer das Blutrecht. Außerdem hat Bündnis 90/Die Grünen ein Flüchtlingsgesetz und ein Einwanderungsgesetz in den Bundestag eingebracht. Ziel unseres Flüchtlingsgesetzes ist es, die Rechtsstellung von Flüchtlingen gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention zu sichern und eine gesamteuropäische Flüchtlingspolitik vorzubereiten. Unser Einwanderungsgesetz will der Tatsache Rechnung tragen, daß Deutschland de facto ein Einwanderungsland ist und bleiben wird. (...)
Der neue Artikel 16 a lautet – aus dem Kompromißkauderwelsch ins Deutsche übersetzt – Politisch Verfolgte genießen Asylrecht, aber nicht in Deutschland. Entgegen der Vorschrift des Artikels 19.2 des Grundgesetzes, die besagt, daß ein Grundrecht in seinem Wesen nicht angetastet werden darf, tastet er das Grundrecht auf Asyl nicht nur an, er ruiniert es in seinem Wesen. (...)
Ebenso gab es ernsthafte ... Zweifel, ob das Konzept sicherer Drittstaaten überhaupt verfassungskonform sei. Nach diesem Konzept kann sich nicht auf die Verheißung von Satz 1, den Schutz vor politischer Verfolgung, berufen, wer aus einem als sicher geltendem Drittstaat einreist. Nach der Theorie der Asylkompromißler sind das alle Nachbarstaaten Deutschlands. Weil Theorie und Praxis nicht so recht übereinstimmten, wurden die Emissäre des Innenministers ausgesandt, Außenpolitik zu machen. Mit sanfter Gewalt wurde den Polen ein Vertrag aufgedrängt; die kosmetische Operation kostet den deutschen Steuerzahler 100 Millionen. Aber es half nichts; Theorie und Praxis wurden nicht stimmig.
Denn Polen war 1992 lediglich in der Lage, 564 Verfolgten Asyl zu gewähren. In der Tschechischen Republik waren es ganze hundert. Der Optimismus, das mit deutschem Geld ändern zu können, grenzt an Torheit. Die Leidtragenden werden Flüchtlinge (...) sein, die weder bei den Deutschen noch bei unseren Nachbarn Sicherheit finden werden. Polen und die Tschechische Republik werden auf Dauer gezwungen sein, ihre Ostgrenzen in einer Weise abzuschotten, die einen schweren Rückschlag für die junge demokratische Kultur und die Menschenrechte dort bedeuten. Durch die Abschiebeprämie, die Deutschland zahlt, wird es zu Spannungen zwischen der einheimischen, sozial schwachen Bevölkerung und den durch die deutschen Millionen bevorzugten Zuwanderern kommen. Auf diese Weise exportieren wir Rostock und Mölln zu den Polen und Tschechen. Diese Politik ist zynisch und würdelos.
Ebenso fragwürdig ist der Versuch, das Asylverfahren durch ein Konzept sogenannter verfolgungsfreier Länder zu beschleunigen. Schon die Diskussionen im Vorfeld haben erwiesen, daß es eine geradezu rührend naive Vorstellung ist, per Gesetz Staaten bestimmen zu wollen, bei denen gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung, noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. (...) Das Konzept der verfolgungsfreien Staaten steht auf tönernen Füßen und gefährdet Menschenleben. Wie werden Sie, die heute Ja sagen, reagieren, wenn Sie die erste Nachricht vom Tod eines Verfolgten, den Sie zurückgeschickt haben, erreicht? (...)“
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