: Dienstleistungen verdrängen Industrie
■ Der neue Flächennutzungsplan (dritte Folge): Eine Prognose für die Industrie ist kaum möglich / Sicherung von Standorten im Ostteil der Stadt / Doppelte Bürofläche bis 2010 erwartet
Der Industriestandort Berlin kränkelt. Um das festzustellen, genügt ein Blick auf die neuesten Zahlen der Senatsverwaltung für Wirtschaft: Allein im Westteil nahm die Industrieproduktion im ersten Quartal dieses Jahres gegenüber 1992 um neun Prozent ab, in Ostberlin sackte sie um rund 8,5 Prozent. Der düsteren Lage wird auch im Erläuterungsbericht zum Flächennutzungsplan (FNP) mit der euphemistischen Formulierung Rechnung getragen, nach der Wiedervereinigung seien in Berlin die „gängigen Methoden der Prognose wirtschaftlicher Entwicklung“ kaum anwendbar. So kann der künftige Flächenbedarf für die Industrie, wie die Verfasser selbst zugeben, nur geschätzt werden. Mit 300.000 Industriearbeitsplätzen und rund 1.000 Hektar zusätzlich benötigten Flächen wird bis zum Jahr 2010 im FNP gerechnet. Davon soll die Hälfte (500 Hektar) als sogenannte Wachstumsreserve aus derzeit brachliegendem oder als Lager-, Stellplätze, militärische Einrichtungen und Kleingärten genutztem Gelände zur Verfügung gestellt werden, um flexibel auf den Markt reagieren zu können.
Volkmar Strauch, bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) für Stadtentwicklung zuständig, hält die vorgesehene Wachstumsreserve für „vernünftig“. Es müsse allerdings noch geprüft werden, ob hierfür 500 Hektar ausreichen. Für Strauch ist entscheidend, wieviel Fläche pro Beschäftigter im industriellen Bereich zur Berechnungsgrundlage gemacht wird. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, das in Berlin 120 Quadratmeter pro Beschäftigter ermittelte, sei „wahrscheinlich zu niedrig angesetzt“. Ende der 80er Jahre habe man in Essen bei Neuansiedlungen einen Bedarf von 234 Quadratmeter pro Arbeitnehmer festgestellt. Auf allgemeine Zustimmung, insbesondere in den östlichen Bezirken, stößt das im FNP weitgehend berücksichtigte Konzept des Senats vom November letzten Jahres, 21 größere zusammenhängende Industrieflächen in der Stadt zu sichern. Hier soll, so hat es Wirtschaftssenator Norbert Meisner (SPD) angekündigt, einer Umwandlung in Dienstleistungsgebiete ein Riegel vorgeschoben und auf die in letzter Zeit explosionsartig angestiegenen Bodenpreise dämpfend eingewirkt werden.
Einer der Nutznießer ist der Bezirk Treptow, wo Gewerbeflächen in Adlershof, Johannisthal und an der Schnellerstraße mit in die Bestandsgarantie übernommen wurden. Während im Osten Sicherung der Industrie angesagt ist, stehen die westlichen Innenstadtbezirke unter erheblichem Druck der Investoren. Etwa in Kreuzberg, wo das Gelände des Telefonherstellers DeTeWe an der Ecke Köpenicker/ Zeughofstraße nicht mehr als gewerbliche Fläche ausgewiesen ist – die Ansiedlung von Dienstleistungen ist künftig möglich.
Der größte Anbieter von Gewerbeflächen ist Marzahn: 780 Hektar weist der FNP aus, davon sind allein 380 Hektar im Bestandskonzept der Wirtschaftsverwaltung für die Ansiedlung von produzierendem Gewerbe eingeräumt. So sind etwa großflächige Lagerhallen oder Speditionsbetriebe für das 90 Hektar große Gelände an der Bitterfelder/Wolfener Straße in der Satzung des bezirklichen Bebauungsplanes ausgeschlossen. Bau- und Wirtschaftsstadträtin Ines Saager (parteilos) will, daß sich am Standort kleine und mittelständische Produktionsunternehmen ansiedeln.
Saager, die sich für die Sicherung der Industriestandorte im Osten stark gemacht hat, hat auch Kritik am FNP. In seiner Gesamtheit sei er „strukturpolitisch unausgewogen“. Die für die Zukunft wichtigen Dienstleistungszentren samt Büroflächen seien überwiegend auf Mitte, Friedrichshain und den Westteil der Stadt konzentriert, während die Randbezirke „wie ein Dorf“ behandelt würden.
Tatsächlich liest sich der FNP, was den Dienstleistungssektor angeht, überaus optimistisch. Er werde der „Motor der Beschäftigungsentwicklung“ sein, lautet einer der Kernsätze. Bei ausgeglichener Bevölkerungsentwicklung rechnet der FNP mit 1,2 Millionen Beschäftigten in diesem Sektor, davon rund 800.000, die in Büros arbeiten werden. Bombastisch lesen sich daher auch die Prognosen für Büroflächen: Der derzeitige Bestand von rund zwölf Millionen Quadratmeter Bruttogeschoßfläche werde sich bis zum Jahr 2010 verdoppeln. Als Schwerpunkte entlang des S-Bahn-Ringes sind vier Dienstleistungszentren am Ost-, Westkreuz, Papestraße/ Schöneberg und im Bereich Gesundbrunnen/Bornholmer Straße vorgesehen. Ob – wie von vielen befürchtet – hier schon jetzt die Büroruinen von morgen geplant werden, hält Strauch von der IHK für eine „offene Frage“. Viel hänge davon ab, welcher Zeitrahmen beim Bau der einzelnen Zentren und Unterzentren eingehalten werde. Darüber sage der FNP leider nichts. Einen gleichzeitigen Bau der Zentren werde der Markt für Büroflächen „sicherlich nicht verkraften“. Severin Weiland
Die Serie zum Flächennutzungsplan wird fortgesetzt.
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