Täglich eine Seite „Satanische Verse“

Der inkriminierte Roman erscheint erstmals auf türkisch / Die linke Tageszeitung „Aydinlik“ veröffentlichte ihn – und geriet ins Visier der Terrororganisation Hisbollah  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Der Neuling unter den türkischen Tageszeitungen, Aydinlik (Das Licht), ist zur Zielscheibe islamischer Fundamentalisten geworden. Die linke Tageszeitung, die erst seit einem Monat erscheint, hat sie mit der türkischen Erstveröffentlichung der „Satanischen Verse“ von Salman Rushdie provoziert. Jetzt arbeiten die Terrororganisation Hisbollah und die türkische Polizei Hand in Hand gegen das Blatt. „Die heilige Allianz hat sich gegen uns verschworen“– so Chefredakteur Ferit Ilsever. Dennoch schaffte es die Zeitung gestern, den am Vortag begonnenen Abdruck der „Satanischen Verse“ fortzusetzen.

Zuerst war die Terrorgruppe Hisbollah, die für die Ermordung Hunderter Sympathisanten der kurdischen Guerilla PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) verantwortlich ist und wohl deshalb von Staatsseite nie rechter Verfolgung ausgesetzt war, in den kurdischen Regionen gegen Aydinlik aktiv geworden. Sie drohte, alle Kioske, die das Blatt verkaufen, in die Luft zu jagen. Die Drohung war ernst zu nehmen. Denn im vergangenen Winter hatte die Hisbollah serienmäßig Brandanschläge auf die Kioske verübt, die die kritische, prokurdische Tageszeitung Özgür Gündem vertrieben. Drei Zeitungsverkäufer wurden damals von der Hisbollah ermordet.

Auf die Hisbollah-Drohung reagierten die Manager vom größten türkischen Vertriebskonzern prompt. Der Vertrieb weigerte sich, die Zeitung in den kurdischen Gebieten weiter zu vertreiben.

Doch nicht nur die Hisbollah bereitet den Blattmachern Sorgen: Als die Zeitung nach ständigen Morddrohungen Polizeischutz zumindest für die Redaktion in der kurdischen Stadt Diyarbakir anforderte, lehnten die Staatsschützer ab. Statt dessen sorgten Polizei und Justiz mit dafür, daß die Zeitung die Leser nicht erreicht. Am Dienstag wurden die Mitarbeiter der Zeitung, die die Filmvorlagen zur Druckerei brachten, von Polizisten festgenommen. Der Gouverneur von Istanbul verbot die Plakate, die die Veröffentlichung der „Satanischen Verse“ im Blatt ankündigten. Vorgestern schließlich ließ das Istanbuler Amtsgericht die Zeitung wegen „Verleumdung des Propheten und der islamischen Religion“ beschlagnahmen. Der Fall geht nun vor das Verwaltungsgericht.

Die Idee, die „Satanischen Verse“ von Rushdie auf türkisch zu veröffentlichen, ist nicht neu. Der türkische Schriftsteller Aziz Nesin hatte bereits vor drei Jahren auf einer Sitzung des türkischen Schriftstellerverbandes einen Beschluß durchgesetzt, daß das Buch im Namen des Schriftstellerverbandes und über hundert namhaften türkischen Autoren veröffentlicht wird. Doch aus Angst vor iranischen Terrorakten fand sich kein Verleger. Hinzu kam, daß die damalige türkische Regierung das Buch verboten hatte.

Irgendwie blieb das Projekt in der Schriftstellerbürokratie hängen. Der 78jährige Schriftsteller Nesin, der zu den meistgelesenen Autoren in der Türkei gehört und über hundert Bücher veröffentlicht hat, fand in Aydinlik das richtige Medium. Als Chefkolumnist von Aydinlik attackiert Nesin seit Wochen die islamischen Fundamentalisten und den Staat, der stets Abstriche vom Laizismus mache. „Die laizistische Türkei ist zur einer Phrase geworden. Im Staatsapparat und in den Ministerien haben sich längst die reaktionären und fundamentalistischen Kräfte eingenistet.“

Für den „dreckigen Schriftsteller“ und „zionistischen Knecht“ Nesin (so die Teheraner Zeitung Cumhuri Islami) haben die iranischen Mullahs mittlerweile eine Todes-Fatwa abgegeben. Doch die Morddrohungen aus Teheran, die Hisbollah, die Verbotsverfügungen der Justiz und die polizeiliche Behinderung lassen Aziz Nesin und die Aydinlik-Redaktion kalt. Trotz Verbots erscheinen Tag für Tag auf der letzten Seite der Zeitung Auszüge aus den „Satanischen Versen“. Theologen und Religionskritiker kommen ebenfalls mit Aufsätzen zu Wort. Auf Anforderung kommen beschlagnahmte Ausgaben per Post, damit die Leser keine Folge der Satanische-Verse-Serie verpassen. Chefredakteur Ilsever verbreitet Zukunftsoptimismus: „Aydinlik vertraut auf das demokratische und laizistische Gewissen unseres Volkes.“