: Nase vorn für Gerhard Schröder
Auftritt der Matadore bei der SPD-Basis im Ruhrgebiet / Scharping sieht blaß aus ■ Von Walter Jakobs
Geübte Parteigänger wissen Bescheid. Wenn die Fotografenmeute an der Eingangstür in Bewegung gerät, ist der Star des Abends nicht mehr fern. Treue Genossen rücken dann schon mal den Stuhl zurecht, denn gleich gilt es aufzuspringen, um den prominenten Gast mit Standing ovations standesgemäß zu begrüßen. So weit ist Rudolf Scharping noch nicht. Ein müder Höflichkeitsapplaus, mehr gewähren die rund 800 GenossInnen in einem Nebentrakt der Dortmunder Westfalenhalle am Montag abend dem rheinland- pfälzischen Ministerpräsidenten nicht – noch nicht. Gemessenen Schrittes bewegt sich der Kandidat zum Podium. Immer lächelnd. Eine fernseherprobte Maskerade, die er selbst bei den dümmsten Talk-Show-Fragen nicht ablegt. Am Montag zeugt eine gewisse Blässe auf den Wangen seines ansonsten braungebrannten Gesichtes von der inneren Angespanntheit. Sicher fühlt sich dieser Mann in seiner neuen Rolle noch nicht.
Wie anders Gerhard Schröder. Der schneit am Donnerstag geradezu beängstigend selbstbewußt in die Essener Messehalle hinein, so als gäbe es kaum etwas verlockenderes als einen internen Wahlkampf um den Parteivorsitz. Dabei bereiten ihm die 500 GenossInnen in der nur gut zur Hälfte gefüllten Halle beileibe keinen herzlichen Empfang. Dünner Beifall wie in Dortmund für Scharping. Schröder versucht erst gar nicht, den mageren Besuch zu überspielen. Er greift auch jetzt den Stier bei den Hörnern: „Schön, daß ihr gekommen seid – wenigstens ihr.“ Und schon hat er die Lacher auf seiner Seite. Was für ein Unterschied! Während Scharpings zaghafte ironische Ausflüge fast ausschließlich auf den politischen Gegner zielen, spottet Schröder über sich selbst und seine eigene Partei. „Man sagt über mich, ich hätte charakterliche Defizite.“ Und dann nach kurzem Schweigen: „Ja, das stimmt.“ Aber er habe seine Zweifel, ob diejenigen, die ihn kritisierten nur edel und gut seien. Schröder ist sich sicher, daß es bei den Wählern die Bereitschaft gibt, „sich von dieser Regierung abzuwenden, aber das geht nur mit Personen, denen man abnimmt, daß sie wirklich gewinnen wollen.“ Dabei müßten die Leute sehen, daß man die Ablösung von Kohl „mit Freude“ angehe. Die Art, wie er das sagt, zeigt jedem im Saal: hier ist einer, der hat darauf wirklich Lust. Wenn die Fernsehzuschauer „sehen, wie unsere Leute sich da gequält, voller Leiden über die Wirklichkeit auf dem Bildschirm äußern, ja dann sagen die sich doch, warum sollen wir den armen Menschen auch noch die Regierung aufzwingen.“ In solchen Augenblicken tobt der Saal. Schröder hat längst die Herzen gewonnen. Endlich ein Sozialdemokrat ohne weinerliche Selbstzweifel, endlich einer, so drückt es ein Genosse aus dem Saal aus, der nicht den Eindruck erwecke, „schon bei seiner Kandidatur an Rücktritt zu denken“.
Schröder: „Sollen wir Kohls Partei mit Kohl ablösen?“
Während der spröde Scharping sein oppositionelles Programm ohne sichtliche Reaktionen beim Publikum vorträgt, politisiert und motiviert Schröder die Sozis im Saal. Beispiel Rot-Grün: Scharping wertet die rot-grüne Festlegung seines Konkurrenten als fatal. Es gehe darum, die SPD nach vorn zu bringen, „denn je stärker die SPD, um so unwichtiger ist die Frage nach dem Koalitionspartner“. Alles weitere sehe man am Wahltag. Solche Unverbindlichkeit eröffnet für Schröder „keine realistische Ablösungsperspektive“. Wer „bundesweit von absoluter Mehrheit spricht, der macht sich lächerlich“. Deshalb helfe „rumdrücken nicht viel“. Sollen wir, so fragt Schröder in den Saal, „Kohl mit Kohls Partei ablösen?“ Oder mit der Lambsdorff-FDP? Nein, wie die SPD das zusammenbringen und vermitteln wolle, habe sich ihm noch nicht erschlossen. Schröder präferiert Rot-Grün – „weil es geht, wenn man es wirklich will“ –, ohne andere Optionen gänzlich auszuschließen. Wenn Rot-Grün aufgrund des Wahlergebnisses „oder aus politischen Gründen“ am Ende nicht funktioniere „bleibt unser Gestaltungswille“, und dann sei die SPD frei, „auch in anderen Konstellationen zu wirken“. Das Publikum zeigt sich von der offenen, konsisten Argumentation des Kandidaten beeindruckt.
Das gilt auch in bezug auf die von Schröder hergestellte Verbindung von Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur. Der Anspruch auf beide Ämter sei „eine Zumutung“, kritisiert ein Juso, der gern Heidi Wieczorek-Zeul, die nächste Woche im Revier auftritt, als Vorsitzende sähe und Schröder als Kanzlerkandidat. Er strebe die beiden Positionen „nicht aus persönlichem Ehrgeiz“ an, entgegnet Schröder, sondern allein deshalb, weil er diese Kombination als eine notwendige Bedingung zur Ablösung Kohls betrachte. Die Trennung halte er schon wegen der „Reibungsverluste“ in der jetzigen Situation für falsch. „Wenn ich aber der Überzeugung bin, daß es in der Konstellation, die ihr wollt, nicht geht, dann darf ich es nicht tun.“ Auch in diesem Punkt kommt von Scharping ein klares Jein. Er will sich die Option auf die Kanzlerkandidatur offenhalten, aber ob er tatsächlich antritt, verrät er nicht. Manfred Thulke (46), seit Jahren nur noch zahlendes Mitglied der SPD und schon vor der Veranstaltung gegenüber Schröder nicht abgeneigt, ist nach zwei Stunden Diskussion „rundum überzeugt“. Er wird Schröder wählen, denn „der könnte mich wieder motivieren“. Gewiß, auch Scharping kommt bei vielen seiner ZuhörerInnen „gut an“, doch begeistert zeigt sich in Dortmund niemand. Schröder dagegen politisiert und mobilisiert die Leute. Während sie Scharping mit dürrem Beifall in Dortmund entlassen, wird Schröder in Essen gefeiert.
Dabei hatte Schröder ein innerparteiliches „Schaulaufen“ auf großen Funktionärskonferenzen zunächst kategorisch abgelehnt – „nicht mit mir“ – und sich sehr skeptisch gegenüber einer Mitgliederbefragung gezeigt. Tatsächlich fußte die Idee der Mitgliederbeteiligung außerhalb des Parteitages weniger auf einem in der Führungsspitze neu erwachten Bedürfnis nach innerparteilicher Demokratie, sondern auf taktischen Überlegungen der Anti-Schröder- Front. Peter Struck, der parlamentarische Geschäftsführer der SPD- Bundestagsfraktion, traf mit seiner Beschreibung den Kern: „Die Mitgliederbefragungs-Strategie ist eine Schröder-Verhinderungsstrategie.“ Es waren die beiden mächtigen Vorsitzenden der nordrhein- westfälischen SPD-Bezirke Westliches Westfalen und Niederrhein, Franz Müntefering und Heinz Schleußer, beide Minister im Rau- Kabinett, die sich am 6. Mai in der WAZ, der größten Regionalzeitung des Landes, mit einem Plädoyer für die Mitgliederbefragung zu Wort meldeten. Daß ausgerechnet Schleußer, ein dezidierter Gegner jeglicher plebiszitärer Demokratisierungsversuche sich plötzlich als Basisdemokrat gerierte, ließ die Alarmglocken bei den Schröderfreunden leuten. Und die WAZ legte alle paar Tage nach. Am 8. Mai wird über Schröders „Angst“ vor der Basis spekuliert: „Schröders Chancen sinken von Tag zu Tag“. Am 14. Mai macht die Zeitung mit Umweltminister Klaus Matthiesen auf. Scharpinp solle Parteichef, Lafontaine Kanzlerkandidat werden. Schröder, so Matthiesen, „ist als Führungsfigur ungeeignet. Er stellt ein persönliches Risiko dar, weil er illoyal ist, und ein politisches Risiko, weil er einen rot-grünen Wahlkampf führen will“. Weitere Anti-Schröder Artikel folgen. Am 24. Mai: „Widerstand gegen Schröder wächst“. Während sich auch der Müntefering-Vorgänger Hermann Heinemann immer wieder öffentlich für Scharping stark macht, hält sich der kommissarische Vorsitzende Johannes Rau mit klaren Aussagen zurück. Seine im Rundfunk geäußerte Klage über das „eine oder andere edle Pferd, das nicht nur mit den Hufen scharrt, sondern den Startschuß schon gehört hat, bevor er gefallen ist“, läßt sich aber ebenso als direkte Kritik an Schröder deuten, wie sein Plädoyer, den Kanzlerkandidaten erst zu einem „möglichst späten Zeitpunkt“ zu nominieren. Daß Rau Scharping als Engholm-Nachfolger präferiert, ist sicher. Nach außen in Erscheinung getreten sind andere.
Funktionäre haben ein Herz für Scharping
Möglicherweise haben die Initiatoren die Kampagne aber überdreht. Manchen Genossen geht inzwischen ein Licht auf. Auf die Mitgliederbefragung sei die Parteiführung in NRW offenbar deshalb verfallen, so der von Stefan Lennardt, Juso-Chef im Bezirk Westliches Westfalen, am Montag in Dortmund geäußerte Verdacht, weil man geglaubt habe, sie über den „besseren Draht zur größten Regionalzeitung“ steuern zu können. Er hoffe nicht, so sagt ein anderer Genosse, daß die Eröffnung des Vorstellungsreigen im Revier durch Scharping „schon eine Vorentscheidung war“.
Nun, Schröder glaubt daran, daß seine rot-grüne Ablösungsperspektive und sein forscher Doppelgriff zur Macht bei den Mitgliedern mehr Unterstützung findet als in den oberen Etagen der Partei. Nimmt man die Resonanz in Essen zum Maßstab, dann könnte Schröder richtigliegen. Er muß weitgehend über die Medien die Mitglieder zu gewinnen suchen, denn das Parteiestablishment lädt ihn nicht ein. Bis zum Tag der Entscheidung liegen ihm nur noch zwei Einladungen vor.
Wer bei den rund 260.000 SPD- Mitgliedern in NRW scheitert, hat kaum Chancen, bundesweit als erster durchs Ziel zu gehen. Das Dortmunder Forsa-Institut hat die Stimmung unter den nordrhein- westfälischen Genossen erkundet. Demnach würden 42 Prozent am liebsten Johannes Rau als Parteivorsitzenden sehen, 16 Prozent favorisieren Scharping, 13 jeweils Schröder und Lafontaine und lediglich 8 Prozent die einzige Frau im Kandidatenfeld, Heidi Wieczorek-Zeul. Als Kanzlerkandidaten wünschen sich 39 Prozent Rau, 20 Scharping und jeweils 16 Prozent Schröder und Lafontaine. Da Rau für keinen der beiden Jobs zur Verfügung steht, kommt es entscheidend darauf an, für wen die Rau- Fans sich letztlich entscheiden.
„Du hast bestimmt heute abend viele Stimmen gewonnen“, sagt der Essener Unterbezirksvorsitzende am Ende der Veranstaltung. Dann meldet sich der Bezirksvorsitzende und Finanzminister Heinz Schleußer zu Wort. Er lese, die NRW-Sozialdemokraten hätten sich festgelegt. Und dann im Angesicht der Schröderbegeisterung: „Ich bedaure diese Vorfestlegung, meist von Prominenten.“ Daß er da an vorderste Stelle beteiligt war, unterschlägt der Bezirkschef. Am 7. Mai hatte Schleußer auf die Frage, ob er für Scharping sei, dies geklärt: „Ich vermute, daß Sie da nicht ganz falsch liegen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen