: Die Mehrheit hat sich durchgesetzt
■ Der Anwalt der Bundestagsmehrheit, Winfried Hassemer, zu den Konsequenzen
taz: Ist nach diesem Urteil für die kommenden 20 Jahre die Abtreibung juristisch geregelt?
Hassemer: Im Gegenteil. Der Bundestag wird vor hohe Nachbesserungspflichten gestellt. Die Aufgaben sind verteilt. Die eingeschlagene Richtung ist diese: Die Mehrheit des Bundestages hat sich mit seiner neuen Konzeption der Abtreibungsregelung durchgesetzt.
Gibt es denn noch rechtliche Spielräume für den Gesetzgeber?
Es ist noch einiges zu tun. In bezug auf die Beratungsregelung und die Rolle der Ärtze ist das Urteil sehr konkret. Dann gibt es etwas wolkige Formulierungen, insbesondere bei dem Begrif „nicht rechtswidrig“ oder dem Tatbestandsausschluß. Es gibt sehr wichtige Entscheidungen zu treffen im Bereich der Folgeregelungen, wie Krankenhausaufenthalt, Lohnfortzahlung und Sozialhilfe, wo der Gesetzgeber in grundsätzliche Beratungen eintreten muß.
Wie ist der Zwiespalt im Urteil zu bewerten, daß die Frau zwar für eine Abtreibung bei Lohnfortzahlung krankgeschrieben wird, gleichzeitig die Krankenkassen nicht mehr bezahlen müssen?.
Ich würde das als Spannung innerhalb des Urteiles ansehen. Bei diesem Urteil sind zwei Sondernoten ergangen. Das bedeutet, es gab natürlich Spannungen im Senat. Das muß sich im Urteil auswirken. Ich glaube, was die Grundkonzeption angeht, hat sich eine Neubewertung der Abtreibung durchgesetzt: kein Strafrecht. Wichtig ist Beratung, die Schutzpflicht des Staates kann auch in Rat und Hilfe bestehen. Entscheidend ist die Situation der Frau. Das sind, meine ich, die liberalen Aspekte. Auf der anderen Seite, insbesondere im finanziellen Bereich sieht die Sache ganz anders aus, das sehe ich auch.
Wie beurteilen Sie den Spruch in bezug auf den Kompromiß im Bundestag?
Das Urteil sagt, daß jede Tötung eines werdenden Lebens Unrecht ist, ein Grundrechteverstoß und daß der Staat eine Tötung werdenden Lebens nicht freigeben kann, auch nicht unter Berücksichtigung der Rechtsgüter der Frau. Völlig klar. Es gibt nicht die Möglichkeit der Abwägung, Selbstbestimmungsrecht der Frau einerseits, Tötung werdenden Lebens andererseits. Insofern weicht der Senat nicht vom früheren Urteil ab. Die neue Richtung ist das Abrücken vom Strafrecht. Ich meine, den Glaube, die Rettung werdenden Lebens durch das Strafrecht zu regeln, gibt es nicht mehr. Der Blick ist auf andere Bereiche des Rechtes gerichtet, darüber hinaus auf Bereiche sozialer Kontrolle, zum Beispiel was das Umfeld der Schwangeren angeht. Im Gesetz steht ganz richtig: „Man kann das werdende Leben nur mit der Mutter schützen, nicht gegen sie.“ Die Schutzpflicht des Staates kann nicht nur über strafrechtliche Regelungen gehen, sondern auch über Rat und Hilfe.
Diese Hilfe ist neu definiert worden. Wie sehen Sie die neue Form der Beratung?
Die Aufgaben der Beratungsstellen sind nicht klar definiert. Sie müssen auf der einen Seite zielorientiert sein, gleichzeitig aber ergebnisoffen, so steht es im Urteil. Das ist keine eindeutige Formulierung. Klar ist nur, das der Beratung in den Augen des Senates eine ganz wichtige Aufgabe im Bereich des Lebensschutzes zukommt. Und das war auch die Meinung der Mehrheit des Bundestages. Klar ist weiter, daß es eine Letztverantwortung der Frau gibt. Und das Arzt und Beratungsstellen eine sehr wichtige Aufgabe haben, nicht nur Büttel des Gesetzes sind.
Wie werden die Frauen in den neuen Bundesländern auf diese Entliberalisierung des Schwangerschaftsabbruches reagieren?
Ich kann mir gut vorstellen, daß in einer Situation, in der sich das Recht bisher herausgehalten hat, das Urteil des Senats mit Verzweiflung und Ablehnung aufgenommen wird. Ich persönlich glaube aber, das es insgesamt ein Schritt nach vorn ist. Das Urteil setzt nicht auf Einschüchterung und Bedrohung der Frauen, sondern auf ihre verantwortliche Mitwirkung. Das Gesetz nimmt ernst, daß es hier nicht um eine Rechtsgutverletzung geht, sondern daß die Situation der Frau eine völlig andere ist. Die schwangere Frau ist nicht mehr die mögliche Täterin, sondern eine mögliche Mutter.
War die Beratung bisher gegen den Schutz ungeborenen Lebens gerichtet?
In der Gesetzgebung bisher spielte Beratung eine geringe bis gar keine Rolle. Das bisherige Recht setzte auf Abschreckung und Strafe. Die Beratung soll Strafe ersetzen, sie soll so was sein wie ein rechtsgüterschützendes Instrument. Das ist etwas Neues.
Wird die Bereitschaft der Ärzte, Abtreibungen durchzuführen, durch das Urteil geringer?
Schwer zu sagen. Ich könnte mir vorstellen, daß die Ärtze die Regulierungen, die der Senat vornimmt und der Gesetzgeber dann wohl vornehmen wird, nicht unbedingt befürworten. Interview: Melanie Kunze
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen