: Fußball im dritten Jahrtausend
Ein Disput hochkarätiger Experten über eine existentielle Zukunftsfrage der Menschheit ■ Von Matti Lieske
Teilnehmer:
F.W. Campbell: englischer Fußballfeind und Rugbyfreund in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts
Karl Planck: deutscher Fußballfeind der Jahrhundertwende, der die „Fußlümmelei“ vehement bekämpfte
Professor Konrad Koch: deutscher Fußball-Pionier, der das Spiel im Gymnasium Martino-Katharineum zu Braunschweig einführte und die Regeln aus dem Englischen übersetzte
John Goodall: genialer Torjäger und Regisseur von Derby County, vierzehnmaliger Nationalspieler für England zwischen 1888 und 1898, von seinen Fans „Johnny Allgood“ genannt
Herbert Chapman: legendärer Trainer von Arsenal London von 1925 bis 1934, Erfinder des „WM- Systems“, das bis in die fünfziger Jahre Bestand hatte
José Leandro Andrade: Seele der wunderbaren uruguayischen Mannschaft der zwanziger Jahre, die zweimal Olympiasieger und einmal Weltmeister wurde, nebenbei Tänzer und Leiter der Karnevalsgruppe „Die armen Neger aus Kuba“.
Matthias Sindelar: Vermutlich bester Mittelstürmer aller Zeiten, ballverliebt, körperlos, treffsicher, genannt „Der Papierene“
Sepp Herberger: Listiger Trainerfuchs, der banale Wahrheiten furchtlos aussprach und seinen Zwecken unterwarf, außerdem über eine äußerst wirkungsvolle rechte Hand verfügte.
Fritz Walter: Rechte Hand
Ernst Happel: Grantler aus Wien, Erfinder des Pressing
Cesar Luis Menotti: argentinischer Weltmeistertrainer 1978, Feind der Diktatur, Freund des kreativen Angriffsfußballs, Mitspieler des großen Pelé beim FC Santos
Carlos Bilardo: argentinischer Weltmeistertrainer 1986, Feind Menottis, Freund des destruktiven Defensivfußballs, gefürchteter Verteidiger der unfairsten Mannschaft aller Zeiten, Estudiantes de la Plata; trat, biß, kratzte, spuckte und zertrampelte die Brille eines holländischen Gegenspielers
Michel Platini: Mittelfeldästhet der Achtziger, Regelinnovator, am Fußball der Neunziger gescheiterter Teamchef
Silvio Berlusconi: Medienmagnat, AC-Mailand-Eigner, Möchtegernzukunft des Fußballs
* * *
Menotti: Liebe Leute, seien wir doch ehrlich, der Fußball ist am Ende. 130 Jahre sind genug, laßt ihn uns in Ehren begraben.
Bilardo: Hö, hö.
Campbell: Habe ich doch gleich gesagt. Die 130 Jahre hätte man sich sparen können. Eine Sportart, bei der man nicht nach dem Gegner treten darf, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Bilardo: Wer sagt, daß man das nicht darf? Man darf sich bloß nicht erwischen lassen.
Planck: Fußlümmelei, Hundetreter, Proleten. Wenn ich mir dagegen die edlen Recken des Turnens betrachte, die heldengleich am Recke schwingen.
Platini: Mensch, die sind doch mit siebzehn alle Invaliden.
Planck: Schweig still, Franzmann, hundslümmeliger.
Herberger: Nun, nun, wir wollen doch nicht unsachlich werden. Ich meine, solange der Ball rund ist, besteht Hoffnung.
Sindelar: Ha! Noch ein paar Jahre und er hat die Form einer Colaflasche. Das Geschäft macht doch alles kaputt. Leute wie Havelange und Berlusconi scheren sich doch einen Dreck um den Fußball.
Berlusconi: Nun aber mal halblang, junger Mann. Ich bin ein wahrer Freund des Fußballs. Meine Sender übertragen rund um die Uhr fast nichts anderes. Ich hole die besten Spieler der Welt nach Mailand, auch wenn ich sie gar nicht alle einsetzen kann, nur weil ich sie liebe. Und wenn Sie bereit wären, nochmal Ihre Stiefel zu schnüren, könnte ich Ihnen mindestens einen Platz auf der Ersatzbank neben Gullit garantieren.
Menotti: Aber das ist es ja gerade. Sie kaufen sämtliche Spieler, die den Ball einigermaßen geradeauskicken können, setzen die Hälfte auf die Reservebank und gewinnen jedes Match mit fünf Toren Unterschied, wenn es nicht gerade um den Europacup geht. Was hat das noch mit spannendem Fußball zu tun?
Berlusconi: Wir brauchen eben die Europaliga, besser noch die Weltliga. Die 300 besten Spieler der Welt in zwölf Clubs wie dem AC Mailand, und sie haben den Fußball des dritten Jahrtausends.
Walter: Aber des is doch Unsinn. Was solle mir denn dann uff de Betze gucke, wenn alle gute Spieler in Italia kicke.
Berlusconi: Fernsehen!
Platini: Ihren Kanal vermutlich.
Berlusconi: Selbstverständlich. Der Fußball der Zukunft braucht kaum noch Zuschauer im Stadion, sondern ist ein Fernsehereignis, mundgerecht serviert, mit Unterhaltungsprogrammen garniert, telegen reformiert. Effektive Spielzeit, Pausen für die Werbung, die Superzeitlupe, Interviews vor dem nächsten Spielzug.
Andrade: Wenn weiter solcher Fußball geboten wird wie bei der WM 1990, können sie ihre Fernsehgeräte getrost einmotten.
Chapman: Das ist doch der springende Punkt. Der Fußball wird doch nicht nur vom Geld kaputtgemacht, sondern von der Taktik. „Spanische Fußballer rennen wie die Blöden“, hat Maradona mal gesagt. Da liegt der Hase im Pfeffer. Wir müssen zurückkehren zu dem gepflegten Fußball meiner Zeit: stoppen, laufen, gucken, passen, hier ein kleines Dribbling, dort ein hübscher Hackentrick. Der größte Fehler war es, das WM-System zu verwerfen. Heute sieht man doch nur noch hektische Klopperei.
Goodall: Das ist fast wie damals bei uns. Alle Spieler rennen dahin, wo der Ball ist, und dann wird draufgehauen, daß die Fetzen fliegen. Wer zuerst trifft, gewinnt. Das war meistens ich. Damals nannte man mich Allgood.
Planck: Widerwärtig!
Andrade: Es fehlt die Anmut, das tänzerische Element. Heute gibt's doch schon bei der Ballannahme auf die Knochen.
Bilardo: Na und?
Sindelar: Es muß viel mehr gescheiberlt werden. Und wenn die Fußballer heute schneller rennen und im Mittelfeld alles dichtmachen, muß man eben die Zahl der Spieler verringern.
Herberger: Der Platini war doch in dieser großartigen Regelkommission „Task Force 2000“. Und dann geht er hin und läßt seine Leute bei der Europameisterschaft Catenaccio spielen.
Platini: Was soll ich denn machen, wenn in ganz Frankreich niemand vernünftig den Ball stoppen kann? Mit einem Maradona kann jeder offensiv spielen, hat man ja an Bilardo gesehen.
Bilardo: Na, so offensiv war das nun auch wieder nicht.
Menotti: Ha! Hab ich's nicht gesagt? Der weiß immer noch nicht, warum er Weltmeister geworden ist.
Platini: Wir haben ja erwogen, nur noch mit zehn Leuten zu spielen, aber im Fußball dauert so etwas seine Zeit. Der einzige wesentliche Vorschlag von uns, der durchgekommen ist, war die neue Rückpaßregel. Ziemlich mager.
Herberger: Elf Freunde müßt ihr sein, nicht zehn.
Walter: Klar, Chef.
Koch: Es ist nicht gesund, bei hoher Sonne zu spielen, schon gar nicht bei Temperaturen über zehn Grad. Das habe ich meinen Schülern streng untersagt. Und bei Ostwind sollte jedes Match sofort abgebrochen werden.
Menotti: Vielen Dank, Professor. Aber außer dem Ostwind, der Angst zu verlieren und der Enge im Mittelfeld gibt es doch noch ein weiteres gravierendes Problem, das kreativen und schönen Fußball verhindert: die permanenten Fouls.
Campbell: Was ist das nur für ein Sport, bei dem man nicht nach dem Gegner treten darf?
Bilardo: Mein Reden, mein Reden.
Planck: Fußlümmel!
Andrade: Menotti hat vollkommen recht. Mit mir sind sie ja auch nicht gerade zimperlich umgegangen. Wenn ich nur daran denke, wie mich die Deutschen 1928 bei der Olympiade malträtiert haben. Aber heute? 51 Fouls beim EM- Halbfinale Deutschland – Schweden, da liegen die Akteure doch mehr auf dem Boden, als daß sie Fußball spielen.
Herberger: Ja, ja die Schweden. Da war bestimmt wieder der Hamrin dabei.
Menotti: Der Maradona konnte in Mexiko doch nur so brillant spielen, weil ihn die Schiedsrichter beschützt haben. 1982 durfte ihn dagegen der Gentile gnadenlos niedermachen. Aber das Hauptproblem sind ja gar nicht mal die groben Fouls, die inzwischen von den meisten Schiedsrichtern mit gelb oder rot bestraft werden, sondern die vielen kleinen Fouls, die ständig den Spielfluß stoppen. Ich habe Spiele von Maradona gesehen, in denen er zu keiner einzigen Aktion in der Lage war, weil sein Gegenspieler in den ganzen 90 Minuten sein Trikot nicht ein einziges Mal losgelassen hat. Die Schiedsrichter müßten gelbe Karten auch für wiederholte kleine Fouls zeigen.
Bilardo: Memme!
Herberger: Das ist ja alles schön und gut, allein, es fehlt der Geist.
Walter: Der von Spiez, Chef?
Herberger: Auch der. Die Spielsysteme kommen und gehen. Das WM-System des Kollegen Chapman, das ich mit Leben und Flexibilität erfüllt habe, 4-2-4, 4-3-3, Raumdeckung, Viererkette, alles schön und gut, aber wichtig ist doch die Seele, der Geist eben.
Walter: Von Spiez!
Herberger: Ja, Fritz. Aber von mir aus auch von Novaja Semlja. Hauptsache Geist.
Happel: Schmarrn. Der einzige Geist, den ich gelten lasse, ist der Weingeist.
Bilardo: Was zählt, ist einzig das Resultat.
Menotti: Das ist mal wieder typisch. Keine Achtung vor den Zuschauern. Wie der Engländer David Platt, der den Leuten riet, lieber ins Kino zu gehen, wenn sie Unterhaltung wollten. Weißt du nicht, was Che Guevara sagt: „Qualität, das ist der Respekt vor dem Volk“.
Bilardo: Und Bakunin sagt: „Die Kraft der Zerstörung ist eine schöpferische Kraft.“
Menotti: Nicht bei dir, Carlos, nicht bei dir.
Chapman: Also, mein WM-System war ja auch sehr defensiv. Aber wir haben immerhin versucht, wenigstens ein Tor zu schießen. Heute spielen viele ja nur noch auf Elfmeterschießen. Mein Vorschlag: weg mit dem Elfmeterschießen, stattdessen sudden death . Und weg mit der Abseitsregel, dann gibt es auch wieder gepflegte lange Pässe und das Gedränge im Mittelfeld hört auf.
Platini: Und der Papin steht nur noch im Strafraum rum. Geh mir fort.
Berlusconi: Dann kommt er eben auf die Bank!
Sindelar: Wenn da noch Platz ist!
Koch: Aber meine Herren. Lassen Sie uns doch zu einer Entscheidung kommen. Als ich den Fußball anno dunnemals in Braunschweig einführte, war er ein wunderschöner Sport, der den Schülern mit einfachen Mitteln ungeheuren Spaß bereitete – außer bei Ostwind. Heute sehe ich nur Schweiß, Drill, Knochenbrüche, Gebolze, Gestocher und die Unterdrückung jeder Spielkunst mit brutaler Gewalt. Das, meine Herren, habe ich nicht gewollt.
Goodall: Also abschaffen!
Campbell, Planck: Bravo!
Platini: Aber nicht doch. Jeder finsteren Epoche des Fußballs folgte bislang eine neue Blütezeit. Nach der Treterei und dem Gestümper von Chile 1962 und England 1966 kam Mexiko 1970 mit der Renaissance Brasiliens, die deutschen Europameister 1972, die fliegenden Holländer 1974. Dem Antifußball in Argentinien 1978 und Spanien 1982 folgten, mit Verlaub, die großartige EM 1984 und die sehenswerte WM 1986. Beim Europacup ging der Catenaccio Inter Mailands schließlich im Sturmwirbel von Ajax Amsterdam unter, die englischen Langweiler Anfang der Achtziger wurden von der offensiven Rasanz des AC Mailand und des FC Barcelona abgelöst.
Auf irgendeine seltsame Art schafft es der Fußball immer wieder, sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen. Das gibt Hoffnung für die Zukunft.
Herberger: Solange nach dem Spiel vor dem Spiel ist, kann der Fußball nicht untergehen!
Entnommen aus dem Buch: „Der gezähmte Fußball – Zur Geschichte eines subversiven Sports“ von Dietrich Schulze-Marmeling, Verlag Die Werkstatt 1992, 336 Seiten, 32 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen