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Nachschlag

■ Bernd Wagner im Brecht-Haus in Weißensee

Ex oriente Frohsinn? Das wäre neu. Die muffig riechende Selbstgenügsamkeit deutsch-demokratischer Nischenbewohner, die staatstragende Traurigkeit ihrer Vorzeige-Dichter samt dem stotternden Zynismus der Avantgarde – alles soweit bekannt und schwer erträglich. Und das blitzende Florett der Ironie, diese jüdische Erfindung für wurzellose Emigranten von Heine bis Tucholsky? Es taucht tatsächlich noch auf zuweilen; viel zu selten freilich, um bei seiner unerwarteten Entdeckung nicht euphorisch zu werden. Also, frisch heraus und ohne den rhetorischen Kniff der Pseudo-Differenzierung: Die DDR hat das Buch bekommen, das sie verdiente – witzig, böse, gescheit, kalauernd und reflektierend, genau und spöttisch distanziert. Die Daten zu diesem Glücksfall: Bernd Wagner: „Die Wut im Koffer – Kalamanzonische Reden 1–11“, Rowohlt Taschenbuch 1993, 363 Seiten, 14,90 DM.

Kalamanzonien ist eine Wortkreuzung aus Kalamität, Zone und Amazonien und hat viele Facetten. Einer dieser Inzucht-Inseln, der Malerkolonie in Weißensee, widmete sich Bernd Wagner und las die entsprechende Passage – in Weißensee. Künstler, die wie er vor 1989 die DDR verließen, mischten sich mit Dagebliebenen, und die Stimmung war entspannt. Es bereitete allen sichtliches Vergnügen, vereinzelte Bauchschmerzen vielleicht nicht ausgeschlossen, was Bernd Wagner da Episode für Episode an Absurdem aufgesammelt hatte, zu Literatur gewordene Ingredienzen realsozialistischen Alltags. Da ist die Geschichte Paul Pawlowskis, der im DDR-Regierungskrankenhaus arbeitete, IM in der Künstlerkolonie war und sich nach der Wende schließlich mit einem Tranchiermesser auf dem Ku'damm entmannte. Aktennotizen und Autorenphantasien, realistisch und grotesk. Pawlowski fällt durch eine ungewöhnliche Eigenschaft auf: Aus dem Westen stammende Düfte verursachen bei ihm Erektionen, was ihn automatisch zum Fachmann für NSDS, das heißt „nicht-sozialistische Duftstoffe“, werden läßt. Später muß er die Berliner Opposition erschnüffeln – von den „Monatsbinden aus dem Umkreis des Unabhängigen Frauenverbandes“ bis zu den „nach Weihrauch und Haarwasser riechenden Soutanen kirchlicher Würdenträger“. Und was ihm dann und wie er dann in der Szene von Weißensee – „in jenen Jahren fest in der Hand von südkalamanzonischen Landmädchen“ – zustößt, das lesen Sie gefälligst selbst!

Es bleibt dabei: Bewahrenswert an der DDR ist das, was ihre geistige Verfaßtheit am besten demonstriert. Der erste Platz auf der schwarzen Liste der Nostalgiker ist Bernd Wagner schon mal sicher. Und noch schlimmer: Sein Buch hat solche Negativ-Werbung überhaupt nicht nötig. Was Sie schon immer über den Osten wissen wollten, so cool aber nie gesagt bekamen – voilá! Marko Martin

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