: Poetisch! Polemisch!! Aufrichtig!!!
Bewegend: Mährische Ebereschen gemahnen – Erfolgsautor Reiner Kunze veröffentlicht sein Tagebuch aus dem Jahr des Herrn 1992 ■ Von Mirjam Schaub
Und wer tut es, wenn er es kann?“
(Reiner Kunze, „Am Sonnenhang“)
Nur soviel: „Der Tenor des Artikels ist wohlwollend.“ Er wird Reiner Kunzes Leistungen für die Poesie würdigen. Er soll aber auch polemisch sein, schreibt nicht Kunze selbst: „Nie hatte das Niederträchtige im Menschen eine solche meinungsbildende Macht wie heute.“ Vor allem aber möchte er gnadenlos aufrichtig, und damit, zuletzt, ein Versuch von Mimikry sein, beseelt vom Wunsch, die „Haltung unbeirrbarer Lauterkeit“ (Werbetext) einzunehmen in Anbetracht des Gegenstandes: Reiner Kunze und sein neuestes Werk „Am Sonnenhang. Tagebuch eines Jahres“.
Poetisch: Leider hat Reiner Kunze seit sieben Jahren keinen Gedichtband mehr veröffentlicht. Doch ist er in 30 Sprachen übersetzt, 1977 verlieh man ihm den Georg-Büchner-Preis... Im sechzigsten Jahr also widmet sich Reiner Kunze der Pflege seines Mammutbaumes im niederbayerischen Erlau oder denkt über seine mährische Eberesche (Farbabbildung!) nach, die ihm unwillkürlich die Erinnerung an „dreimal Heimat“ zurückgibt. Liebevoll kümmert sich Kunze um seine lyrischen „Entdeckungen“, die er mit viel Gespür und Sorgfalt nicht müde wird, im „Sonnenhang“ vorzustellen: „Wann schon kann man poetische Bilder lesen wie dieses: ,Die Ringelnatter liegt auf dem Tag, / unauffällig beschienen / von ihren eigenen Halbmonden.‘ Wann schon hört man ein ,Nocturne‘ so anstimmen: ,Dem Hahn habe ich den Schnabel / mit einem Regenfaden zugenäht, / damit der Morgen allein erwacht.‘ und wann ein ,Nocturne‘ so enden: „...der Pilgerstab aus Wachs wächst wieder‘.“ Außerordentlich, diese Anaphern! Es handelt sich bei dem zitierten Dichter um Marian Nakitsch aus Zagreb, der „geistig in Deutschland (lebt), dessen Gesetze es ihm aber untersagen, seiner Sehnsucht nachzuziehen“. So schön wie Kunze sagt es keiner. Es geht nicht um Wirtschaft noch um politische Verfolgung, sondern um das Stillen einer Sehnsucht. Das gibt dem Problem seine menschliche Seite zurück. Besonders bewegend sein Fall, weil Nakitschs Deutsch „Eigenlese von den Weinbergen Rilkes, Huchels, Artmanns, Handkes...“ ist.
Mit Kunze läßt sich nicht nur der Blick für gute Lyrik schulen, sondern auch das Bewußtsein für gute Literaturkritik. Eines Tages wird es reichen, das Erhabene aus Kunzes Urteilen zu zitieren. Heute schon bieten sich an „Bilder über Bilder: ,Zu wenige Märchen sind erfunden / Nachtigall, für dich...‘“, flankiert von „ein großes, in sich geschlossenes dichterisches Gebilde...“, gekrönt durch eine frenetische „Und was für eine bewegende Wendung...“! Nicht vergessen, ein Gedicht hebt grundsätzlich an oder wird angestimmt! (Von Musik versteht der Dichter etwas, große CD-Liste auf S. 195-199!)
Polemisch: Ich habe lange überlegt, an welcher Stelle dem Dichter eine Polemik wohl gelungen sei. Die Tatsache, daß er Walter Jens gleich dreimal mit derselben Äußerung zitiert, legt den Schluß nahe, es könne sich bei Kunzes Austritt aus der Westberliner Akademie der Künste um eine solche handeln. Kunze empört sich wiederholt darüber, daß Jens ganz bewußt den Austritt von ehemaligen DDR-Dissidenten in Kauf nimmt, um die östliche Akademie en bloc mit der westlichen zu vereinigen. Kunze fühlt sich nicht für voll genommen, was noch ein bißchen schlimmer zu sein scheint als die Aussicht, den alten Peinigern am Literaturtisch aus dem Leben am Sonnenhang vorzulesen.
Spätestens seit Kunzes Comeback mit dem aktenträchtigen Buch „Deckname ,Lyrik‘“, haben seine LeserInnen ein Recht darauf zu wissen, wie es mit Hermann Kant & Konsorten weitergeht. Der liebe Gott, der alles weiß, ist dabei für die zwei verfeindeten Glaubensrichtungen jeweils die Staatssicherheit. War dieser Gott nun aber ein Gott des Wortes oder der Schrift? Nach Aktenlage hat Kant als Scharfmacher die Ausweisung Kunzes betrieben, vor Gericht bezeugt sein Führungsoffizier das Gegenteil. Auch Wolf Biermann ist fürs Wort und zitiert die Lyrikerin Helga Novak, deren jugendliche IM-Sünden die meisten vergeben haben, mit der Äußerung, Kunze sei Mitte der fünfziger Jahre an der Leipziger Journalistenschule als „brutaler stalinistischer Einpeitscher von den besseren Studenten gefürchtet“ gewesen. Kunze wiederum ist für die Schrift und zitiert den entlastenden Operativ-Vorgang der Staatssicherheitsabteilung XX/7. Wer Esau und Jacob bei den Eifersüchteleien zuschaut und sich ein Lächeln nicht verkneifen kann, wird persönlich abgemahnt.
Aufrichtig: Nach der Lektüre des 1992er Tagebuchs kann kein Zweifel mehr an Kunzes Kampfeswillen gegen das Böse bestehen, ist es doch Albert Camus höchstselbst, das absurde Gewissen als Wiedergänger, der Kunzes Mitleid und tätigen Eifer erregt. Kunze hat ihn (wie die Aufzählung seiner Lieblingslektüren nahelegt, eine wahre Orientierungshilfe für mich als Volksschullehrerin) restlos und mehrmals gelesen, fünf Camus- Bücher führen seine Hitliste an (verloren darin Mandelstam, Celan, Lasker-Schüler...). Einer eventuellen Geringschätzung seiner aphoristischen, sentenzengeleiteten Themenwahl tritt Kunze schon im Vorwort entschieden entgegen: „Zu folgern, das, was an Zeitgeschehen... nicht zur Sprache kommt, hätte mich nicht bewegt, wäre ein Fehlschluß... Und – nach Camus –: ,Mit vierzig Jahren klagt man nicht mehr laut über das Böse, man kennt es und kämpft gemäß seiner Schuldigkeit...‘“
Gemäß seiner Schuldigkeit äußert sich Reiner Kunze am 9. November, dem Tag, da sich das Pogrom jährt; Kunze bevorzugt die freundlichere Bezeichnung Reichskristallnacht. Es geht diesmal nicht um Helmut Kohl & die dt. Einheit (seine „Tragik: im richtigen Augenblick das Falsche gesagt und das Richtige getan zu haben...“), den Balkankrieg und die neue Zweistaatlichkeit von Slowakei und Tschechei, sondern um die brennenden Asylantenheime in Deutschland. Ein Kunze-Bonmot: „Mir ist ein steinewerfender Deutscher fremder als jeder friedfertige Fremde.“ Woraus im Sinne der Satzlogik folgt: Nicht Fremde sind Kunze fremd, sondern friedfertige Fremde (und zwar jeder einzelne von ihnen). Aus dem Kunze-Diktum läßt sich facilement der Umkehrschluß bilden: Mir ist ein nicht-steinewerfender Deutscher vertrauter als jeder nicht-friedfertige Fremde. Ob Kunze das sagen wollte? Brannte sein Formwille mit dem Inhalt durch? Der Satzanschluß läßt's vermuten: „Aber auch die Behauptung, die heutigen Deutschen seien eben doch die Nachkommen der Nationalsozialisten, ist ein Steinwurf – ein Steinwurf gegen ein Volk.“ „Fremde“ schlägt man mit Steinen, sich selbst und das nationale Ehrgefühl aber schon mit dem eigenen Diskurs: krankenhausreif alle beide, die Armen. „Geteiltes Leid ist halbes Leid“, heißt es dann auf Station.
„Poetisch, polemisch, aufrichtig“ kündigt der Verlag seinen Autor an. Daneben eine Fotografie, die Reiner Kunze zwingt, von unten ein bißchen nach oben zu schauen, was den durchdringenden Augen-Blick ins Unabwendbare steigert. Die Inkarnation der „unbeirrbaren Lauterkeit“ (Verlagstext) muß das sein. Lauterkeit ist noch besser als Aufrichtigkeit, mehr noch als Charakter: Kunze ein charismatischer Verfechter des Edelhilfreichundgut. Bescheiden dabei! Immer ist Reiner Kunze bemüht, die Kluft zwischen sich und seinen LeserInnen nicht durch übertriebenen Scharfsinn (oder auch nur sprachliche Genauigkeit) zu vertiefen. Er ist aus Fairneß, denk' ich, gern unpräzis.
So antwortet Kunze Dorothee v.W. am 23. April 92, warum ein Autor seine Gedichte vorliest, unter Punkt vier: „Nur wenige Menschen brauchen zum Leben das Gedicht. Der Verlag, der meine Gedichte druckt, darf erwarten, daß ich das Meine tue, seine Einbußen zu mindern.“ Der S.-Fischer-Verlag widerspricht am Telefon. Nein, Reiner Kunze, ein liebenswürdiger und umgänglicher Autor, sei seit Jahren einer der erfolgreichsten des Hauses, der Satz doch sicher eine „freundliche Schmeichelei für die Verlagspsyche“. Gerne würden wir das glauben, wäre Reiner Kunze nicht so ein aufrichtiger und guter Mann. Spielt er auf all jene LyrikerInnen an, zu denen auch er sich gerne zählte: alle drei Jahre ein hochdiffiziler Gedichtband, 2.000er Auflage, zu Lesungen durch die Lande tingelnd? Ach, so wild und gefährlich könnte das Leben fernab des Sonnenhangs sein, wäre Kunze doch nur ein armer Poet! Der „Kunzereiner“, eine Fälschung? Der bestgehütete Fake des Literaturbetriebs, gedeckt seit Jahren durch Karl Corino und Heimo Schwilk? Da ist mal einer seit den fünfziger Jahren durch und durch politically correct, und nun soll es ästhetisch nicht zum laureatus reichen? Reicht uns nicht sein eigenes leises Wort: „Es gibt stumme Scham, die beredter ist als jede Rede – und zuweilen ehrlicher“? Kunze hat, was unserer Frankfurter Schule von früh an abging, nämlich den Begriff von einer Gegenwelt? „Würden wir von kleinauf dazu erzogen, den anderen nach dem Besten zu beurteilen, das er zum Leben der Menschen beisteuert..., und uns bei unserer Wertschätzung vor allem von seinen Vorzügen statt von den Grenzen seiner Individualität leiten zu lassen, wieviel mehr an gegenseitiger Bewunderung wäre unter den Menschen, wieviel mehr an Dankbarkeit, Behutsamkeit und Ursache, sich zu freuen – es wäre, scheint mir, die Gegenwelt.“
Nachdrücklich, nachgerade feierlich, neigen wir den Kopf, nachdenklich. „Am Sonnenhang“ hat unsere Sprache tief geprägt, bleibt nur, mit ihr zu enden: „Wir wußten: Die Stimme trägt. Der Geist hob ab mit Eleganz.“
Reiner Kunze: „Am Sonnenhang. Tagebuch eines Jahres.“ S. Fischer 1993, 208 S., 15 Abb., 32 DM
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