: Die mit weißer Weste erzählen
■ "Zerbrochene Zeit" eine Ausstellung über das rote Wilhelmsburg zwischen 1923 und 1947
zwischen 1923 und 1947
Der Erfahrungsbericht des Wilhelmsburger Abiturienten ist von seltener Offenheit: „Im Geschichtsunterricht war ich stolz, als ich hörte, wir Deutschen seien das tüchtigste Volk der Erde.“ Der Schüler berichtet von seinen Erlebnissen in der Hitlerjugend, der Aufsatz entstand zwischen 1947 und 1952 — eine Pflichtübung, um zur Reifeprüfung zugelassen zu werden. Auszüge aus diesem und anderen, bislang noch nie veröffentlichten Dokumenten sind jetzt in der Honigfabrik im Rahmen der Ausstellung „Zerbrochene Zeit — Wilhelmsburg in den Jahren 1923 — 1947“ zu sehen.
Wilhelmsburg war rot — diesen Satz hörten die Initiatoren der Ausstellung, die Mitarbeiter der Geschichtswerkstatt, ständig. Doch wie konnte dann der Naziterror auch in dem ehemaligen Arbeiterviertel, wie überall in Deutschland, Platz finden? Zwei Jahre gingen die Mitarbeiter dieser Frage nach. Das Ergebnis sind die sorgfältig zusammengestellte Ausstellung und ein gleichnamiges, reichlich bebildertes Buch, das den Leser unaufdringlich durch das damalige Wilhelmsburger Alltagsleben führt.
Ein Wilhelmsburger Stadtteilrundgang, so heißt ein Kapitel in dem Buch, zeigt dem Besucher der Ausstellung die Orte einer sehr aktiven Arbeiterkultur. Im Buch sind Straßen, Stationen und Situationen genau beschrieben, Zeitzeugen kommen zu Wort. Anhand dreier Lebensläufe und lebendiger Interviews sind die Schicksale von Widerstandskämpfern und Arbeiterführern nachvollziehbar.
Doch soviel Ehrlichkeit wie in den Aufsätzen, die Margret Markert in der Forschungsstelle zur
1Geschichte des Nationalsozialismus an der Universität Hamburg entdeckte, begegnete den Geschichtsforschern selten: „Wir haben natürlich meist nur zu denen Kontakt bekommen, die eine weiße Weste haben. Die erzählen das so locker weg“, sagt Margret Markert.
1Doch auch zu den verschwiegenen Themen — das Verschwinden der jüdischen Mitbewohner, der Wilhelmsburger Aufruhrprozeß oder die Kriegserlebnisse eines jungen Wilhelmsburgers — berichten Menschen, die diese Zeit miterlebt haben: in Interviews, Kurzbefra-
1gungen oder in Feldpostbriefen. wie
Die Ausstellung ist noch bis zum 9. Juli im Stadtteilzentrum Honigfabrik zu sehen, dienstags bis freitags von 10 bis 18 Uhr, donnerstags bis 20 Uhr. Dort gibt es auch das Buch „Zerbrochene Zeit“, Verlag „Dölling und Galitz“
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