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Die Faszination der Direttissima

Drei Tage in der Vertikalen / Bergsteigen an der 3.733 Meter hohen Petite Drus in Frankreich im Montblanc-Gebiet / Hoher Anteil an technischer Kletterei  ■ Von Malte Roeper

Im Bewußtsein der Bergsteiger und der französischen Öffentlichkeit besitzt der außerordentlich formschöne und elegante Gipfel der nur 3.733 Meter hohen Petit Drus im Montblanc-Gebiet einen ähnlichen Stellenwert wie die Eigernordwand oder das Matterhorn. Diese Gipfel sind „öffentliche Berge“. Man kann sie von unten, vom Tal aus sehen. Der Tourist schaut hinauf zur Wand und staunt: „Oh Gott, ist das steil. Und da klettern die hoch.“ Der Kletterer starrt ebenfalls hinauf: „Auweia, sieht das schwer aus – da müssen wir hoch!“

Seit ihrer Erstbesteigung im Jahre 1878 ist die Drus ein Berg, an dem jede Klettergeneration ihre Maßstäbe neu gesetzt hat. Verschiedene Führen auf die Drus sind heute Klassiker und Marksteine der alpinen Geschichte und zugleich Dokumente des Leistungsstands der jeweiligen Erschließerepoche. Mittlerweile ziehen zehn verschiedene Anstiege allein durch das steilste Stück der Drus, die haltlos steile 1.000 Meter hohe Westwand. Die letzte wirklich logische Führe in der Westwand war die „Französische Direttissima“ von 1982, die den überhängenden „Roten Pfeiler“ im rechten Wandteil überwindet.

Ich hatte die Drus bereits zweimal bestiegen, einmal davon über die Westwand. Aber es gibt Berge, die verlieren ihre Faszination nie. Also noch mal.

Mein Seilpartner heißt Elies, kommt aus Barcelona, und wir kennen uns erst seit einer Woche. Nach einer kleinen Tour ist das gegenseitige Vertrauen bereits groß. Elies ist noch jung – 22 –, verschlossen und eigenwillig, aber ein hervorragender Kletterer. Das ist wahrscheinlich kein Zufall, denn die besten Bergsteiger Spaniens waren schon immer die Katalanen.

Der Plan für die Direttissima ist schnell gefaßt. Seine Durchführung dagegen wird Tage dauern.

Der besondere Reiz der Französischen Direttissima besteht in ihrem hohen Anteil technischer Kletterei. Technisch klettern heißt, sich mit Hilfe von Haken und Klemmkeilen dort hinaufzubasteln, wo der Fels keine natürlichen Haltepunkte zum freien Klettern mehr bietet. Das immer populärer werdende Freiklettern dagegen bedeutet Fortbewegung nur mit Hilfe der natürlichen Griffe und Tritte, wobei Seil, Haken und weitere Hilfsmittel ausschließlich zur Sicherung verwendet werden.

Da die Französische Direttissima als eine der schwersten Routen ihrer Art nur ganz selten wiederholt wird, stecken dort kaum Haken von anderen Kletterern. So muß der Vorsteiger jede Seillänge komplett „nageln“, und der Seilzweite nimmt alles wieder mit.

Am Ende des ersten Tages überwinde ich ein herrliches, drei Meter ausladendes Dach und erreiche einen Absatz, auf dem wir die Nacht verbringen können. Leider gibt es auf dem Absatz keinen Schnee. Elies hatte vorgeschlagen, Wasserreserven mit in die Tour zu nehmen, was ich ablehnte. Und nun haben wir nichts mehr zu trinken und für morgen auch nichts. „Elies!“ rufe ich hinunter und tue möglichst lässig, „eine gute und eine schlechte Nachricht. Wir können ... äh ... unheimlich viel Gas sparen, es ... gibt nämlich überhaupt keinen Schnee hier oben!“

Doch auf eine Ecke des Absatzes tropft Wasser, das wir nach einigem Probieren mit unserer Rettungsdecke auffangen können.

„Oh Mann“, meint der Katalane, „als du mir runtergerufen hast, daß hier kein Schnee ist – I was going to kill you.“

Glück gehabt.

Am zweiten Tag kommen sieben Seillängen rein technische Kletterei am Roten Pfeiler, der hier beginnt. Ein grandioses Erlebnis. In der Mitte des völlig kompakten, leicht überhängenden Pfeilers zieht ein feiner, messerrückenbreiter Riß hinauf. Diese Passagen lassen sich nur mit Hilfe winziger Messingkeile überwinden. Vorsichtig werden die Keile, an denen ein dünnes Stahlkabel befestigt ist, im Riß verklemmt und auf ihre Belastbarkeit geprüft. Dann erst klinkt man das Seil ein und zieht sich wieder einen mühsamen Meter höher, eine kitzlige, langwierige Art der Fortbewegung. Die Standplätze sind Schlingenstände, in denen man unbequem, luftig und ohne Halt für die Füße herumbaumelt wie ein Segler im Trapez.

Immer wieder treiben Wolken in die Wand und hüllen uns in dichten kühlen Nebel. Hat sich der Wetterbericht mal wieder getäuscht? Ein Rückzug von so weit oben in der Wand wäre fatal. Wir hängen am Stand, Elies übernimmt das Material für die nächste Seillänge. „I kill the weatherman“, flüstert er, „I kill the weatherman!“

Wegen des unsicheren Wetters lassen wir einen guten Biwakplatz aus und klettern bis in die Nacht, um den Berg so schnell wie möglich zu verlassen. Völlig überraschend bin ich zum ersten Mal, seit ich klettere, so erschöpft, daß ich nicht mehr führen kann. Absurderweise verspüre ich darüber sogar eine gewisse Befriedigung.

Elies macht noch eine Länge, und ich bleibe im Dunkeln zurück. Ich stehe frierend in der pechschwarzen Nacht, und vor mir verkrangeln sich die Seile, die ich ausgeben muß, damit Elies weiter kann. Der eine Strang ist 9,8 Millimeter dick, der andere 9. Wie sollen meine Hände das unterscheiden? Am Ende muß ich hinterher. Wie ein Betrunkener greife ich nach den langen Schlingen, die Elies für mich unterwegs hängengelassen hat. Was für ein Kampf. Was für ein hirnverbranntes Unternehmen, sich hier tagelang hinaufzuschinden. Dumm oder bloß dämlich? Vorher bilden wir uns ein, daß dieser Trip unheimlich toll wird. Hinterher verdrängt man die unangenehmen Augenblicke und ist sich sicher, daß es wirklich ganz prima war. Es ist immer dasselbe ...

Dann das Biwak. Der Sitzplatz ist leider nicht größer als eine Kühlschranktür. Aber erstens ist es schon mitten in der Nacht, so daß nicht viele Stunden zum Frieren übrigbleiben, und zweitens haben wir nur noch zwei leichte Längen vor uns, sind also praktisch oben. Trotzdem ist es natürlich einer jener Augenblicke, in denen man lächelnd 500 Mark für eine zweite lange Unterhose bezahlen würde.

Erschöpft, wie wir sind, sinken wir – über das Seil am Standplatz gesichert – so weit in uns zusammen, bis wir auf dieser winzigen Fläche tatsächlich halb auf-, halb nebeneinander liegen. Irgendwann im Morgengrauen schreckt Elies mit einem Schrei aus dem Schlaf – er hing bereits mit einer Schulter über dem Abgrund.

Am Gipfel gönnen wir uns nur eine kurze Rast, denn das Wetter sieht weiterhin unsicher aus. Doch die Aussicht von hier ist mal wieder grandios. Wären wir in einem halben Tag über den unschwierigen Normalweg aufgestiegen, die Intensität der Augenblicke hier oben wäre nicht die gleiche. Als wir im Abstieg die erste Schutzhütte erreichen, bricht ein Gewitter los. Das hat gerade gereicht. Unsere Hände sind von der hakentechnischen Kletterei ziemlich mitgenommen, Haut fehlt, die Finger nahezu unbeweglich, geschwollen wie Wiener Würstchen, sehr steif und sehr schmerzhaft. Der Rest des Körpers fühlt sich an wie klumpiges Mehl. Einen Tag später sind wir wieder im Tal und nach dem ersten Bier so blau wie der Himmel über der Drus.

Die insgesamt 5 Tage am Berg haben uns sehr geschwächt – eine umständliche Methode, um sich billig zu betrinken. Unnötig umständlich, genaugenommen.

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