: Welche Verfassung für Rußland?
Heute tritt die verfassunggebende Versammlung zusammen / Zwei Entwürfe / Jelzin will starke Stellung des Präsidenten / Kritiker: Prinzip der Gewaltenteilung verletzt ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath
Die Kritik der Opposition an Präsident Boris Jelzins Verfassungsprojekt läßt sich auf eine bündige Formel bringen: Der Versuch, Rußland im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie zu regieren, kommt rund neunzig Jahre zu spät. Die Kräfteverhältnisse heute sind zugleich klar und verworren: Die reaktionäre Parlamentsmehrheit möchte die Annahme einer neuen Verfassung verhindern. Jelzin aber will sich mittels der Konstitution des reaktionären Gesetzgebers entledigen. Im Kampf um seine Selbsterhaltung schwingt sich die Legislative zum Hüter der Demokratie auf. Stünden hinter den Argumenten nicht allzu greifbare Sonderinteressen, könnte das Parlament sicher auf eine breitere Zustimmung bauen.
Jelzins Entwurf sieht – in Anlehnung an das französische Modell – eine starke Präsidentschaft vor. Danach soll ein Zweikammern- Parlament die bisher dreigliedrige Struktur der Legislative ersetzen. Das Unterhaus würde per Verhältniswahlrecht gewählt. Im Oberhaus säßen automatisch die gewählten Präsidenten der autonomen Subjekte der Russischen Föderation. Hinzu kämen die Vertreter der regionalen Verwaltungen. Diese ernennt der Präsident selbst. Ihm obliegt auch das Recht, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben. In der Regierung müßte er nur seinen Premierminister vom Gesetzgeber absegnen lassen, alle anderen Ministerposten kann er nach Gutdünken besetzen.
Da nicht zu erwarten war, daß der Volksdeputiertenkongreß die Verfassungsdiskussion aufnähme, regte Jelzin nach dem für ihn ermutigenden Referendum die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung an. Heute nimmt sie in Moskau ihre Arbeit auf. Sie repräsentiert ein breites Spektrum aller gesellschaftlichen Kräfte: Ihr gehören jeweils zwei Vertreter aller 88 Republiken, Regionen und Gebiete an, die über gewisse Autonomie verfügen. Politische Parteien, Bewegungen, Gewerkschaften und Volksdeputierte sind vertreten. Geschäftsleute und Hersteller wurden ebenfalls eingeladen. Mit von der Partie sind Abgesandte der höchsten Rechtsorgane, des Verfassungsgerichts, des Obersten Gerichtshofes und der Staatsanwaltschaft. Insgesamt kommen um die 2.000 Delegierte zusammen. Jelzin entsandte persönlich 25 seiner Leute.
Am Mittwoch dekretierte der Präsident die Teilnahme Premierminister Tschernomyrdins, Vizepremier Schumeikos und Sergej Schachrais. Der ambitionierte junge Jurist und Vizepremier Schachrai war am Entwurf des Präsidenten federführend beteiligt. Seine Gegner halten ihm vor, im Projekt eigenen Ambitionen gefolgt zu sein. Interesse am Präsidentenamt in der Post-Jelzin-Ära hatte der smarte Junge vor kurzem erst bekundet. Jelzins Leute sollen die fünf wichtigsten Arbeitsgruppen der Versammlung leiten.
Das Parlament ernannte in letzter Minute seinen Vorsitzenden Ruslan Chasbulatow, den ärgsten Gegenspieler Jelzins, zum Delegierten. Ob Jelzin sich damit einverstanden erklärt, ist fraglich. Offiziell argumentiert das Regierungslager, das Parlament habe als politische Körperschaft seine Legitimation verloren, könne daher in dieser Funktion nicht teilnehmen.
Ginge es nach dem Willen des Präsidenten, läge Ende Juni die fertige Verfassung vor. Doch der Zeitrahmen scheint unrealistisch. Denn die Vertreter der Autonomie wollen aus ihrer womöglichen Gefolgschaft noch Kapital schlagen: mehr Selbständigkeit und weniger ökonomische Verpflichtungen gegenüber Moskau. In der nächsten Woche haben sie ein Treffen im karelischen Petrosawodsk anberaumt, einem Hort der Reaktion. Das Regierungslager versuchte bisher, den Eindruck zu vermitteln, als seien die Republikchefs unbeirrte Parteigänger des Präsidenten. Dem war natürlich nie so. Jelzin muß taktieren, will er ihnen nicht zu viele Konzessionen einräumen. Das gefährdet nicht nur die Umsetzung der Reformen, es könnte einige auch zu weiterer Loslösung von Moskau ermutigen.
Die heutige Versammlung wird zunächst die Frage klären müssen, welchen Entwurf sie als Basistext benutzen wird. Denn die Verfassungskommission unter ihrem Vorsitzenden Oleg Rumjantzew beschäftigt sich schon seit drei Jahren mit der Ausarbeitung. Rumjantzew wirft Jelzin vor, alle Grundlagen der Gewaltenteilung zu verletzen. Das Staatsoberhaupt küre sich zum Alleinherrscher, indem es die Regierung führt, Gesetze erlassen darf und sich gleichzeitig noch zum Obersten Schiedsrichter erhebt.
Der parlamentarischen Variante – ungeachtet ihres taktischen Charakters in der jetzigen Lage – haftet etwas Künstliches an. Eine parlamentarische Demokratie festzuschreiben ohne funktionsfähige Parteien, die in der Gesellschaft verankert wären, gleicht einem Sandkastenspiel mit unkalkulierbaren Risiken.
Die politischen Fronten haben sich nach dem Referendum verschoben. Die Opposition hat an Schärfe und Gefolgschaft verloren. Chasbulatows Stellvertreter Nikolai Rjabow favorisierte öffentlich einen Kompromiß und diskreditierte seinen Vorgesetzten. Mitglieder des Parlamentspräsidiums und Vorsitzende parlamentarischer Kommissionen, lange Zeit erklärte Gegner Jelzins, schwenkten ebenfalls ein. Arkadi Wolski, graue Eminenz, Kopf der Chefs der staatlichen Industriebetriebe und einer der wichtigsten Exponenten der bisher oppositionellen „Bürgerunion“ gab dem Präsidentenprojekt „mit Korrekturen“ sein Placet. Damit wischte er Vizepräsident Ruzkoi eins aus, der der „Bürgerunion“ vorsitzt und einen unversöhnlichen Anti-Jelzin Kurs fährt. Zu klären ist noch, wie und von wem die fertige Fassung angenommen werden soll. Von der Versammlung selbst, dem Volksdeputiertenkongreß oder durch ein neues Referendum. Hochrechnungen ergaben, daß 60 Prozent der Delegierten Jelzins Entwurf befürworten, ein Viertel unterstützt ihn mit Vorbehalten.
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