: Genitale Gehirnschocks und "Iggy is God!"
■ Hamburg Rocks am Samstag vor den Großmarkthallen / Zwölf Stunden gesittete Massenparty mit 25 Jahren Rocl-Geschichte
am Samstag vor den Großmarkthallen / Zwölf Stunden gesittete Massenparty mit 25 Jahren Rock-Geschichte
Bis zuletzt hatten Hamburgs Obst- und Gemüsehändler noch versucht, das Festival verbieten zu lassen. Auf ihrem schönen Parkplatz vor der Großmarkthalle sollten tausende schmutzige Rock-Fans diesen bestialischen Lärm anhören und am Ende würden vielleicht noch ein paar Scheiben zu Bruch gehen? Schlimme Sorge für die Laub- und Körner-Höcker. Als letzten Protest ließ man Samstag morgen den Müllcontainer des Marktes mitten auf dem Platz stehen.
Stunden später konnte sich dann auch der verbiestertste Blaumann davon überzeugen, daß Alternative- Rock-Fans keine mordenden und plündernden Horden Drogensüchtiger sondern überwiegend friedliche Schulkinder sind, die ausgelassen herumspringen, statt Haschisch meist Rotwein aus der Tüte zu sich nehmen und alles Böse auf die Motive ihrer T-Shirts verbannt haben. Umfaßt von einem Basar, auf dem man Nasenringe, Lederwesten oder Guarana erstehen konnte, lagerten die Legionen von Marshall-Addicts mit Decken auf dem Asphalt oder wälzten sich mit Ohrenstöpseln aus Papierkügelchen geschützt vor der Bühne.
Neun Bands unterschiedlichster Rock-Untersparten unterhielten 12 Stunden lang die Menge ihrer Freunde auf dem riesigen Platz, von dessen Ende aus das Geschehen auf der Bühne wie ein Flohzirkus wirkte. Die geniale Soundwalze von Monster Magnet und der genitale Gehirnschock von Rage Against The Machine bildeten die nachmittäglichen Höhepunkte. Suicidal Tendencies gewannen mit Wahnsinn die Sympathien einiger Nörgler zurück, bevor Living Colour zu einer Demonstration mit Musik antraten. Vernon Reid, gehüllt in eine große türkische Flagge, auf deutschen Demonstrationen ja bekanntlich das Zeichen der rechten Türken, und Sänger Corey Glover mit „Nazis- Out“-Stakkati (aber wohin damit denn bitte?) enttäuschten mit politischer Anspruchslosigkeit in Parolen-Dosis. Einem Publikum, das bei einem Konzert der reaktionären Schwulen- und Schwarzen-Feinde Guns'n'Roses nicht weniger laut Sprüche von der Bühne apportieren würde, kann man ruhig ein paar Gedanken zum internationalen Rassismus zumuten, wie es Rage Against The Machine taten.
Alle in die Tasche steckte ein „alter Mann“ mit freiem Oberkörper: Iggy Pop gab „Lust For Life“ und explodierte auf der Bühne wie eh und je. Vielleicht stimme ja, was man gelegentlich auf Bahnhofswänden liest: Iggy is God! Danach und als Resultat von viel Alkohol gefiel sogar der populistische Rock von Faith No More, die im Farbenschauspiel des nächtlichen Hafens eine gute Party zu Ende brachten. Till Briegleb
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen