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Das schönere Scheitern

Der VfL Bochum (1971-1993) ist trotz eines 3:1 gegen Wattenscheid 09 mutmaßlich aus der ersten Bundesliga abgestiegen  ■ Aus Bochum Christoph Biermann

Als am Samstag um 17.14 Uhr Schiedsrichter Aust das auf unabsehbare Zeit letzte Bundesligaspiel im Bochumer Ruhrstadion abpfiff, geschah Denkwürdiges. Mit Tränen in den Augen feierten die Zuschauer Mannschaft, Trainer und Verein. Auf Schultern trugen die auf den Rasen gestürmten Fans Mittelstürmer Holger Aden herum. Ein gänzlich ahnungsloser Besucher hätte den Eindruck gewinnen können, daß hier Großes erreicht worden war.

Dabei änderte auch der 3:1-Sieg im Lokalduell gegen die Eingemeindungsopfer aus Wattenscheid nichts an der Tatsache, daß der VfL Bochum nach 22 Jahren ununterbrochener Bundesligazugehörigkeit absteigen muß. Oder doch nicht? Am Dienstag entscheidet das DFB-Schiedsgericht über einen Bochumer Protest gegen die Bestrafung von Dynamo Dresden, denen für ihre Manipulation bei der Erteilung der Lizenz in diesem Jahr, vier Punkte erst im nächsten Jahr abgezogen werden. Sollte der DFB seine Entscheidung revidieren und Dresden die Punkte doch direkt aberkennen, bliebe Bochum unabsteigbar. Ein großer Verlust für die Bundesliga kann also noch abgewendet werden. Denn der Abstieg des wundersamen Klubs würde eine Lücke hinterlassen, die niemand anders schließen kann.

Länger als München 1860 und Bayer Leverkusen, der 1. FC Nürnberg und der Karlsruher SC sind sie dabei, und in all den Jahren hielt sich der Klub exzessiv an das olympische Motto des „Dabeisein ist alles“. Die Deutsche Meisterschaft zu gewinnen geriet er nie in Gefahr. An keinem ihrer 752 Spieltage in der Eliteklasse stand eine Bochumer Mannschaft an der Tabellenspitze. Am Saisonende blockierten sie nie einen der Plätze im UEFA-Cup. Diese einzigartige Bescheidenheit und Rücksichtnahme ging so weit, daß in keiner Spielzeit überhaupt ein positives Punkteverzeichnis erreicht wurde. Auch beim zweimaligen Vordringen ins Pokalfinale ließen sie höflich ihren Gegnern den Vortritt.

Deshalb wurde der VfL Bochum in der Bundesliga von den meisten Gegnern natürlich hochgeschätzt. Nur 236 Mal brachten sie die Gegner in die Verlegenheit, als Verlierer vom Platz gehen zu müssen. Nur in 54 Auswärtsspielen enttäuschten sie das dortige Publikum durch einen Sieg, in Köln, Bremen und Kaiserslautern geschah das nie. In einem Höhepunkt schönen Scheiterns gewährten sie 1976 dem FC Bayern München die historisch einmalige Gelegenheit, einen 0:4-Rückstand im Ruhrstadion noch in einen 6:5-Sieg umzuwandeln.

Auch die fragwürdige Institution der Nationalmannschaft wurde von Bochumer Seite weitgehend ignoriert. Allein Franz-Josef Tenhagen spielte 1977 dreimal im Nationaltrikot. Ansonsten drängte sich nur einmal ein Bochumer Spieler in den Vordergrund. 1986 wurde Stefan Kuntz erfolgreichster Torschütze der Bundesliga. Der Bochumer Logik des Nicht- Erfolges gehorchend, wurde er umgehend an Bayer Uerdingen transferiert.

Wann immer sich in Bochum größeres Talent anzudeuten schien, wurde es großherzig an die Konkurrenz weitergereicht. Hans Walitza, der erste Torjäger, wechselte nach Nürnberg, Tenhagen nach Dortmund. Bayer Leverkusen legte den Grundstein heutiger Aufschwünge mit Dieter Bast, Christian Schreier, Wolfgang Patzke und Martin Kree. Auch die Transfers des „rasenden Briefträger“ Kurt Pinkall, der „Rakete“ Eggeling, von Uwe Leifeld, Stefan Kohn und Bald-Nationalspieler Thorsten Legat sind in Bochum unvergessen.

Soll mit dem Ende der Saison das Bundesliga-ABC des VfL Bochum von A wie Abel bis Z wie Zumdick wirklich geschlossen sein? Wurde doch so vielen Fußballern, deren Namen zu nennen die Scham verbietet, nur beim VfL Bochum die Chance gegeben, richtige Bundesligaspieler zu werden. Und wo sonst wären Männer wie Walter Oswald, Lothar Woelk, Heinz Knüwe, Hermann Gerland und Michael „Ata“ Lameck zu Trägern eines Fußballstils aufgestiegen, der so kunstvoll war wie die Reden von IG-Metall-Bezirksvorsitzenden? Gab es Momente von wirklicher Spielkultur, so blieb es meist ein kurzes Aufflackern. Wenn hoffnungsvolle Karrieren nicht bei anderen Vereinen weitergeführt wurden, endeten sie oft im Krankenhaus. Viele der insgesamt 143 Bundesligaspieler des VfL Bochum haben alles gegeben, weshalb die Berufsgenossenschaft in Bochum auch die meisten Sportinvaliden der Bundesliga zu betreuen hatte.

Die ewigen Kanalarbeiter der Liga hinterlassen eine große Trauergemeinde. Der diesjährige Zuschauerschnitt von knapp 23.000 Besuchern ist der höchste in allen Bundesligajahren. Ins Ruhrstadion kamen in der abgelaufenen Saison mehr Fans als zum Deutschen Meister Werder Bremen. Und nie wurden so viele neue Fanclubs gegründet, und nie folgten der Mannschaft soviele Fans zu Auswärtsspielen wie in dieser Saison. Eine ganze Generation von Fußballfans hat auf den Rängen des Ruhrstadions das Leiden gelernt und will diese Erfahrung auch nicht mehr missen.

Die Erfahrungen, die sich in all den Jahren beim weisesten Publikum der Liga angesammelt haben, faßte bereits vor einigen Jahren ein anonymer Zuschauer bei einem Auswärtsspiel in Uerdingen zusammen. Als der VfL nach einer halben Stunde mit 0:3 im Rückstand lag, seufzte er halblaut: „Gut, daß ich zu Hause geblieben bin.“

Sollte der DFB diesen Erfahrungssschatz und dieses pädagogisch wertvolle Modell nicht schützen? Als Vorbild für die Jugend, um die Schönheit und Größe des Scheiterns erkennen zu lehren? Wenn nicht, hinterläßt der VfL noch eine Bestleistung der Bochumer Art: nie zuvor in 30 Jahren Bundesliga hatte ein Absteiger ein so gutes Torverhältnis.

Wattenscheid 09: Mai - Prinzen - Emmerling, Bach - Moser (57. Silberbach), Wolters, Fink, Ibrahim (68. Kula), Hermann - Tschiskale, Lesniak

Zuschauer: 20.000; Tore: 1:0 Wegmann (19.), 2:0 Wosz (45.), 3:0 Aden (53.), 3:1 Tschiskale (64.)

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