■ Die Morde von Solingen ziehen neue Anschläge nach sich: War dies nur der Anfang?
Unternehmen wir den zwangsläufig deprimierenden Versuch, die Anschläge von Mölln und Solingen zu vergleichen, so drängt sich zunächst eine Übermacht von Parallelen auf. In beiden Fällen handelte
es sich bei den Brandstiftern nicht um organisierte Rechtsradikale. In beiden Fällen töteten junge deutsche Männer Menschen, deren einziges Merkmal es war, kein deutsches Blut in den Adern zu haben.
In beiden Fällen traf es Türkinnen, Vertreterinnen der größten Gruppe hierzulande lebender Auslän-
der.
Nach den neuen Brandanschlägen in Hattingen und in Konstanz, bei denen nur durch glückliche Umstände niemand zu Tode kam, ist allerdings zu konstatieren: So sehr die Taten und die Motivationen sich ähneln, so unterschiedlich sind die Reaktionen auf sie. Nach dem Brandanschlag in Mölln war zweierlei zu beobachten: Zum einen kamen die seit den Pogromen von Rostock schreckensstarren Aktivistinnen und Aktivisten des linken und linksliberalen Milieus in Bewegung und manifestierten mit Rockkonzerten oder Lichterketten die zumindest zahlenmäßige Überlegenheit des besseren, fremdenfreundlichen Deutschlands. Zum anderen war in den Kreisen potentieller Attentäter eine deutliche Verunsicherung zu spüren. Die Zahl der Anschläge gegen Ausländer ging zurück. Ein paar Monate konnten wir hoffen, daß die Manifestation der Hunderttausende den rechtsradikalen Terror eindämmen würde.
Dies hat sich als Illusion erwiesen. Noch ist nicht auszumachen, inwieweit hinter der neuen Anschlagswelle eine dezidierte Strategie der „ethnischen Säuberung“ steht, ob die Täter dieses Ziel nur intuitiv ansteuern bzw. wie stark der Sog der „Anschlußkriminalität“ ist, also das Verbrechen von Amateuren, die sich von der ungeheuren politischen Wirkung faszinieren lassen, die sich mit einer Schachtel Streichhölzer und einem Kanister Benzin erzielen läßt.
Festzustellen ist hingegen: Lange Jahre war es das Kennzeichen rechtsradikalen Terrors, daß mit ihm eine allgemeine Strategie der politischen Destabilisierung verfolgt wurde. Heute hat faschistischer Terror nicht nur Tausende von potentiellen Tätern, sondern auch ein konkretes Ziel gewonnen: Die Vertreibung der bei uns lebenden Ausländer, die „Re-Arisierung“ des neuen Deutschland. Diesem Terrorismus ein Ende zu setzen, ist kurzfristig unmöglich. Gegen Anschläge aus einem diffusen, unorganisierten Milieu ist die Polizei, die glücklicherweise in Mölln wie in Solingen die Täter schnell ermitteln und verhaften konnte, bislang und wahrscheinlich auch zukünftig machtlos.
Vor dem Hintergrund dieser bedrückenden Erkenntnis stehen alle Zeichen auf Eskalation. Die Randale auf den Demonstrationen, die viele, die sich in die Lichterketten eingereiht hatten, davon abhält, wieder auf die Straße zu gehen, eröffnet für die Bundesregierung und die Rechte die Möglichkeit, mit der Kritik an antifaschistischer Gewalt die Notwendigkeit eines stärkeren Staates herbeizureden. Daß die gegenwärtigen Aktionen von Polizei und Justiz keine vorbeugende Wirkung haben, ist offensichtlich. Aber ebenso offensichtlich ist es, daß auch politische Aktionen aus der Gesellschaft heraus dieses Ziel verfehlen. Jetzt ist deshalb nicht die Zeit gegenseitiger Schuldzuweisungen im Lager der Demokraten, sondern für eine gemeinsame und genaue Diskussion unter AusländerInnen und Deutschen über den gesellschaftlichen „Einsatz“, der seine Wirkung nicht erst in einer unbestimmten Zukunft bringen wird. Michael Sontheimer
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