piwik no script img

Die Perestroika kam als Fallbeil

■ Eine deutsche Reise durch Rußland in drei Folgen: „Wolgaträume – Wolgaschäume“ im Fernsehen des ORB

Rockabilly in St. Petersburg, Gorbatschow aus Pappe vor McDonald's in Moskau, Sacharows Plattenverschlag im Verbannungsort Gorki und dazwischen flaches, sattes Land, das sich links und rechts der Wolga bis zum Horizont genießen läßt.

Harald Beckmann und Michael Marton haben die erste deutsche Reisegruppe begleitet, die 1992 vierzehn Tage mit der „Konstantin Smirnow“ auf der Mutter aller Flüsse, der Wolga, kreuzte. Ein Teil der Deutschen war schon einmal hier, Marschbefehl: Endsieg über den Bolschewismus. Am Ende standen Gefangenschaft und, zurück in der Heimat, der Schwur: „Nie wieder Rußland“. Jetzt sind sie doch wieder da, und beim Blick über die Wolga überlegen sie, ob der Krieg und sie selbst ein Teil Schuld an der heutigen Krise des Riesenlandes haben. Und wenn sie darüber sinnieren, wie Mütterchen Rußland wieder auf die Beine geholfen werden kann, kramen sie tief in der Mottenkiste der Kriegsgeneration: Weil die russischen Zustände dem deutschen Reinheitsgebot nicht standhalten, schlagen sie dem Volk „eine strenge Führung, eine kräftige Hand, die die Menschen kräftig an der Strippe hält“, vor.

Beckmann und Marton verzichten in ihrem Film auf jeden Kommentar. Russische Heimatlieder, Bilder, die sich Zeit lassen, und die Erzählungen der Menschen, denen sie auf dieser Reise begegnen, sprechen für sich selbst – Reality-TV der eigentlichen Art, aus einem Land, das sich im freien Fall befindet.

„Sag Gorbi, diesem Versager, daß wir ihm dieses elende Leben zu verdanken haben“, ereifert sich ein bettelnder Alter auf den Straßen von St. Petersburg. Auch ohne spektakuläre Bilder von Alkohol- Leichen oder Mafiakämpfen macht die Wolga-Reise eines deutlich: Für die Menschen ganz unten (und das sind die meisten in diesem Land) kam die Perestroika („Umgestaltung“) wie ein Fallbeil in ihr Leben. Alles hat sich geändert, nur das Böse ist geblieben: Dieselben Leute der Stadtverwaltung, die den Bürgerrechtler Sacharow in seinem Verbannungsort Gorki über Jahre schikanierten, geben heute ihre Genehmigung, „für den Helden“ eine Gedenkstätte zu errichten. „Ist das nicht paradox?“ fragt kopfschüttelnd ein Leidensgefährte Sacharows.

Paradox ist es, dieses Land entlang der Wolga, aber vor allem ist es schön. „Wolgaträume – Wolgaschäume“ ist ein 75-minütiges „Bootmovie“ durch einen malerischen Scherbenhaufen. Torsten Preuß

Heute 21 Uhr sowie am 16.6. und 23.6. ebenfalls 21 Uhr, ORB

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen