: Auch Toiletten sind fremd Von Pablo Diaz
Wiesbaden. Früher Nachmittag. Nach getaner Arbeit freut sich Mensch auf den Nachhauseweg. Doch plötzlich überkommt einen ein zutiefst menschliches Bedürfnis. Wohin? Weit und breit kein Lokal, kein Einkaufszentrum oder Café und schon gar kein rettendes kleines, stilles Örtchen. Nur Autos. Die Not wird bedrückender. Die ersten Autofahrer lachen. Ist es mein Gesichtsausdruck oder der Gang, der mich verrät? Schweiß bricht aus. Die Beine rennen schneller als meine Gedanken. Plötzlich, nicht zu glauben, steht da ein beiges Ungetüm mitten auf dem Gehweg: „Öffentliche Toilette. Benutzung 0,50 DM.“ Freudentränen rinnen mir die Wangen hinab.
50 Pfennig will die Maschine. Bekommst du, sofort! 50 Pfennig, die meine Ehre retten. Die Suche beginnt. Wie oft hatte ich mich über diese lächerlichen 50-Pfennig-Münzen schon geärgert. Telefonieren kann man nicht mehr mit ihnen, die Parkuhren wollen sie nicht, und an den Eisdielen bekommt man auch nichts mehr dafür. Wem waren sie da noch nützlich? Meine Blase macht sich durch einen schmerzlichen Druck wieder bemerkbar. Die kleine alte Frau, die gerade mit ihrem Dackel vorbeigeht, schaut mich verschmitzt an. Als will sie sagen: „Ja, das kenn' ich.“ Ich laß' mich nicht beirren und wühle weiter. Linkes Hosenbein – nichts. Rechtes Hosenbein – auch nichts! Oh Barmherziger! Dann werde ich in der Manteltasche fündig. Endlich! „Münze einwerfen. Tür links geht auf“, verspricht der Automat. Ich gehorche, doch kaum ist der Fuffziger im Schlitz verschwunden, erscheint ein roter Knopf: „Besetzt“. Wieso besetzt? Der Automat hat gelogen! Keine Tür ist aufgegangen – meine Blase drückt bestialisch. Ich drücke auf die anderen zwei Knöpfe. Nichts. Absolut nichts! Die kleine alte Frau grinst und deutet mit dem Finger auf die andere Seite des Kastens, dort ist gerade eine Tür aufgesprungen, auf der steht: „Französisches und europäisches Patent“. Logisch, denke ich, das Ding kann kein deutscher Ingenieur entwickelt haben.
Ich will gerade die rettende Insel betreten, da fällt mein Blick auf den weißen Toilettensitz. Er hat keinen Abfluß! Wie soll ich meine Blase entleeren, wenn meine Flüssigkeit nirgendwo verschwindet? Auch für das Toilettenpapier ist kein besonderes Behältnis da, kein Extraschlitz, wo ich benutztes Papier einwerfen könnte, so wie im Flugzeug etwa. „Französisches und europäisches Patent“. Diese Franzosen! Zu Hause stellen sie ganz einfach zu verstehende Plumpsklos hin, und hier verkaufen sie den Deutschen irgendwelche Patente, die kein Mensch versteht!
Doch meine Blase läßt mir keine Zeit mehr für weitergehende moralische Fragestellungen. Ich schließe die Tür und lasse der Natur freien Lauf. Befreiend. Wohltuend. Angenehm. Ich atme tief durch. Das geht, denn im Innenraum befindet sich eine extra Belüftungsanlage. Aber warum nur haben sie keinen Abfluß eingebaut? Mit schlechtem Gewissen steige ich wieder aus. Die elektrische Tür schließt sich sofort. Dann sind ganz merkwürdige Geräusche, wie die aus einer Dusche, zu hören. Ich will hineinschauen, dieses seltsame Patent endlich verstehen. Aber es geht nicht. Die Tür läßt sich nicht mehr öffnen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen