piwik no script img

Phrasendrescherei

■ betr.: LeserInnenbriefe zu Solingen, insbesondere "Mir reicht's!", taz vom 3.6.93

betr.: LeserInnenbriefe zu Solingen, insbesondere „Mir reicht's!“, taz vom 3.6.93

Mir reicht's inzwischen auch: [...] War man/frau es schon fast gewohnt, von konservativen Politikern in bezug auf Asylrecht mit unverantwortlichen Hetzereien (zum Beispiel Stoibers „Durchrassung“) oder, im besten Fall „nur“ mit nichtssagenden Floskeln penetriert zu werden, so beginnt jetzt auch das linke Spektrum, sich der Phrasendrescherei zu bedienen.

Statt die immer noch vorhandenen Möglichkeiten konkreten Handelns aufzuzeigen und abzuwägen, ergeht man/frau sich in stumpfsinnigem Frontmachen gegen Politiker und deren Versäumnisse beziehungsweise Alleinschuld. Selbstverständlich hätte die doppelte Staatsbürgerschaft und damit das kommunale Wahlrecht bereits vor zehn Jahren eingeführt werden müssen; aber daraus zu folgern, daß die Mordbrennerei von Mölln und Solingen in dem Fall nicht geschehen wäre, scheint mir ein Schuß aus der Hüfte gewesen zu sein. Es ist doch hanebüchen zu glauben, daß politisch völlig unbeschlagene Skinheads anders gehandelt hätten, wenn das Asylrecht tags zuvor in Bonn nicht verstümmelt worden wäre!

Wir sollten dieses komplexe Problem vielleicht alle etwas pragmatischer angehen und uns klar darüber werden, daß, so ungeliebt diese Vorstellung vielen auch sein mag, der Rechtsradikalismus ein Produkt unserer Gesellschaft ist, wir uns demzufolge mit ihm zu befassen haben. Das Geschrei nach härtester Bestrafung nach dem Auge-um-Auge-Prinzip erscheint mir lediglich der bequemste weil denkfaulste Weg aus diesem Dilemma zu sein. Es kann doch nur darum gehen, den zum größten Teil jugendlichen Anhängern rechtsextremistischer Kreise, die sich von neonazistischem Abenteurertum beeindrucken lassen, wieder eine sinnvolle Lebensperspektive zu geben, statt sie durch primitive Ausgrenzung immer tiefer in den braunen Sumpf zu treiben. [...] Till Becker, Münster

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen