: „Mehr Anschläge überstehen wir nicht“
Der IRA-Bombenanschlag, der am 24. April ganze Straßenzüge des Londoner Bankenviertels verwüstete, hat die Geschäftswelt tief verunsichert. Was kommt als nächstes? ■ Aus London Antje Passenheim und Ralf Sotscheck
Das sieht aus wie nach einem Krieg“, stellt die etwa 60jährige Frau, die sich mit ihren Einkaufstaschen durch die zähe Menschentraube gekämpft hat, entgeistert fest. Sie steckt ihre Nase durch den schmalen Spalt im drei Meter hohen Wellblechzaun und meint: „Wie in Beirut sieht das ja aus.“ An dem Bild der Verwüstung, das sich ihr bietet, kann sie sich gar nicht sattsehen: Ein Skelett von leergefegten Betongiganten, aus deren Fensterhöhlen hier und da ein Gardinenfetzen weht – für London-TouristInnen der ideale Schnappschuß.
Wo sich bis vor kurzem die internationale Finanzwelt hinter Spiegelfensterfronten versteckt hat, liegt nun das Gerüst der Geldmaschinerie bloß. Es war die größte Bombe, die seit dem Zweiten Weltkrieg auf britischem Boden explodiert ist. Bei dem Attentat der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) im Bankenviertel der britischen Hauptstadt wurde am 24. April ein Mensch getötet, der Sachschaden betrug mindestens eine Milliarde Pfund (ca. 2,5 Milliarden Mark). Zum Leidwesen von Polizei und Regierung ist das Viertel seitdem so attraktiv wie nie und zieht täglich Tausende von Schaulustigen an. Premierminister John Major und sein Kabinett hatten die Bevölkerung geradezu beschworen, die Bombenexplosion zu ignorieren, um den immensen Propagandaerfolg der IRA nicht noch zu vergrößern. Gleich nach der Explosion hatte der Regierungssprecher trotzig verkündet, in der City werde weitergearbeitet, als sei nichts geschehen: „Business as usual.“ Das ist freilich leichter gesagt als getan. Immerhin hat der tonnenschwere Sprengsatz rund 500.000 Quadratmeter Bürofläche vernichtet, 20.000 Arbeitsplätze lösten sich in Rauch auf – fast alle zählen zur Banken- und Versicherungsbranche.
Was in jeder anderen Großstadt zum vorübergehenden Zusammenbruch des Geschäftslebens geführt hätte, löste in London zunächst den Griff in die Schubladen aus. Dort lagen die Katastrophenpläne längst bereit. Die Firmen hatten aus dem IRA-Bombenanschlag auf das Bürogebäude „Baltic Exchange“ im April vergangenen Jahres gelernt. Damals war der Schaden mit 800 Millionen Pfund zwar geringer, das Chaos aber um so größer. Diesmal gaben sich die Unternehmen gefaßt und organisierten den Umzug in alternative Räumlichkeiten – kein Wunder, herrscht doch an Büroflächen wahrlich kein Mangel in London. Während des Baubooms der 80er Jahre wurden allein im Jahr 1989 fast 1,2 Millionen Quadratmeter Büroräume in der Innenstadt geschaffen. Die Mieten sind seitdem um die Hälfte gefallen. Und dann gibt es auch noch die „Wall Street auf dem Wasser“ – die futuristische Bürostadt in den „Docklands“ des ehemaligen Londoner Hafens. Als Kernstück hatten die Planer den größten Bürohaus- und Vergnügungskomplex Europas vorgesehen: „Canary Wharf“. Der bereits Ende 1991 fertiggestellte Zentralbau der Canary Wharf, ein 250 Meter hoher Wolkenkratzer mit 48 Stockwerken und 115.000 Quadratmetern Bürofläche, steht trotz Lockpreisen noch immer zu mehr als einem Drittel leer. Die insgeheim gehegte Hoffnung, daß die IRA geschafft habe, was Werbekampagnen und Dumping-Mieten nicht vermochten, hat sich jedoch nicht erfüllt. Die ausgebombten Finanzinstitute wollten nicht mal vorübergehend in den alten Hafen, der wegen seiner schlechten Infrastruktur wie Sauerbier gehandelt wird.
Die „National Westminster Bank“ und die „Hongkong and Shanghai Banking Corporation“, die von dem IRA-Anschlag besonders betroffen sind, konnten ihre 1.900 Angestellten in anderen Niederlassungen in der City unterbringen. Schwieriger war es für kleinere Firmen, doch in vielen Fällen halfen die Landsleute zunächst aus: „Daewoo Securities“, eine koreanische Sicherheitsfirma, kam bei der koreanischen „Coryo International“ unter, die japanische „Long-Term Credit Bank“ zog zu „Mitsubishi“. Andere Unternehmen wie „Norton Rose“ teilten ihre Leute auf: Die Anwaltskanzlei, die nur 50 Meter von der Explosion entfernt in der Camomile Street lag, richtete eine „Kommandozentrale“ ein und verteilte die 850 Angestellten in Achtergruppen über die gesamte Stadt.
Bei der türkischen Staatsbank „TC Ziraat Bankasi“ hat der Anschlag dagegen Depressionen ausgelöst. Die Restaurierungsarbeiten nach der IRA-Bombe auf die „Baltic Exchange“ vor einem Jahr waren gerade abgeschlossen – am nächsten Tag schlug die IRA erneut zu und legte das Bankhaus in Schutt und Asche. Die Stadtverwaltung hat inzwischen neue Räume vermittelt.
Keine Katastrophe ist freilich so groß, als daß nicht manche noch ihren Nutzen daraus ziehen könnten. Bei den betroffenen Firmen geben sich seit dem Attentat die Vertreter von Bürobedarfsfirmen aus dem gesamten Vereinten Königreich die Klinke in die Hand. Raymond Duff von der Glaserei „A to B Glazing“ hatte am Tag nach dem Anschlag bereits 15.000 Pfund umgesetzt. „Das ist der Traum eines jeden Glasers“, sagte er, fügte aber schnell hinzu: „Ich weiß, es ist furchtbar, aber des einen Pech ist des anderen Glück.“
Für die britischen Versicherungen ist das keine Frage des Glücks mehr, sondern eine Überlebensfrage. Die Unternehmen fordern von der Regierung den Ausgleich des Schadens bei terroristischen Anschlägen, wie es in Nordirland schon lange der Fall ist. Im Prinzip hat die Regierung ihre Zusage gegeben, nachdem es die Rückversicherer seit vergangenem November ablehnen, Geschäftsgebäude in der Londoner City zu versichern, doch die entsprechende Gesetzgebung läßt noch immer auf sich warten. Seit Januar sammelt eine Dachversicherung mit dem Namen „Pool Re“ dennoch die Prämien für Bombenversicherungen bei sämtlichen Unternehmen ein. Nach dem City-Anschlag ist der Pool freilich auf einen Schlag leer. Fast den gesamten Rest muß die Regierung aufgrund ihrer mündlichen Zusage beisteuern, die Versicherungen übernehmen nur zehn Prozent davon.
Trotz des tiefen Schocks, den der IRA-Anschlag bei Geschäftswelt, Bevölkerung und Regierung hinterlassen hat, geben sich die Politiker gefaßt: „Die Stadt, die Hitler widerstanden hat, läßt sich auch von der IRA nicht unterkriegen.“ Die zur Schau getragene Gelassenheit der Regierung gilt aber weniger der IRA als vielmehr der internationalen Finanzwelt, bei der sich Unruhe breitmacht. William Purves, der Vorsitzende der „Hongkong and Shanghai Bank“, warnte, daß die IRA-Bombe die Aussichten Londons, als Standort für die neue europäische Zentralbank gewählt zu werden, unterminieren könne. „Wenn Europa entscheidet, wohin die Zentralbank kommen soll“, sagte Purves, „werden Sicherheit und Transport gegen London zählen.“ Noch überwiegen jedoch die beruhigenden Stimmen. Claus-Werner Bertram, Geschäftsführer der Deutschen Bank, sagte: „Da gibt es gar keine Diskussion. Wir müssen in dieser Stadt präsent sein.“ Auch die Schweizer Banken „UBS“ und „SBC“, die US-Firma „Morgan Stanley“ und die französische „BNP“ unterstrichen die Bedeutung Londons.
Doch wieviel mehr wird die internationale Finanzwelt hinnehmen? Michael Cassidy, der Vorsitzende des politischen Ausschusses der Stadtverwaltung, sagte kurz nach dem Anschlag: „Einen dritten Angriff dieser Art würden wir nicht überstehen.“
Bei der Bevölkerung wächst der Unmut über mangelnde politische Initiativen und die ineffektive Terrorabwehr der britischen Regierung. Die Politiker, so der Tenor, müssen sich endlich etwas einfallen lassen, um den Krieg gegen die IRA zu beenden. 35 Tote, 544 Verletzte und Milliarden Pfund an Sachschaden hat der nordirische Konflikt allein in Großbritannien in den vergangenen zehn Jahren gekostet. Im selben Zeitraum gingen der Polizei lediglich drei IRA- Leute ins Netz.
„Es muß etwas getan werden, um die Sicherheit zu verbessern“, fordert auch die alte Dame, die immer noch durch das Loch im Wellblechzaun späht. Doch was? Premierminister Major will die Polizei zu landesweiten bewaffneten Straßenblockaden und Autokontrollen nach dem Zufallsprinzip ermächtigen. Hunderte von versteckten Kameras und mehr Patrouillen sollen in der City of London künftig für Sicherheit sorgen, meint der Staatschef, sogar eine „autofreie“ City wird erwogen. Doch das Bankenviertel gehörte schon vor dem Anschlag zu den bestbewachten Stadtteilen. Dennoch konnte die IRA den bombenbeladenen Lastwagen parken, ohne daß eine Polizeistreife mißtrauisch wurde.
Nach dem IRA-Anschlag vor zwei Jahren auf Majors Amtssitz in der Downing Street lehnten es die LondonerInnen noch ab, ihre Stadt in ein Armeelager verwandeln zu lassen. Heute sind sie sich nicht mehr so sicher. „So geht das nicht weiter. Daß da nicht noch mehr passiert ist – ein reines Wunder“, raunt die Voyeurin am Wellblechzaun, als sie ihrem Hintermann schließlich das Guckloch überlässt. Der nickt.
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