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Der kleine Unterschied

■ Eine Erinnerungsweste mit der jedeR unbesorgt durch die weite Welt gondeln kann. Ein Ex-Ossi im Supertempo um die Welt

Voriges Jahr in Jerusalem, nicht wahr. Oder: Ach, wissen Sie, wir lernten uns im Sinai kennen, nun zeigt sie mir Paris. Oder: War ich doch neulich in Köln und traf gegen alle Wahrscheinlichkeit den jungen Offizier aus Tel Aviv wieder, mit dem ich dann nach Mitternacht sturzbesoffen aus der Disco herauskam, wir „Teutonen raus!“ riefen, prompt verhaftet wurden, da die Polizeistreife nur „Raus!“ verstanden hatte, uns für Rechtsradikale hielt, als sozialdemokratisch angehaucht, aber schnell das Mißverständnis begriff und uns lachend den Weg zur nächsten Bar wies ... Lalali-dalala, blablabla.

Ein Ex-Ossi lernt Wessi-Sätze brabbeln. Übernimmt sich manchmal noch in deren Länge. Auch seine sprudelnde Aufgeregtheit verrät noch die jahrelange Zwangsexistenz auf dem Wartegleis. Nun mit Supertempo durch die Welt, Geschichten erleben und danach verwerten.

Ein bißchen spannendes Ambiente zaubern: eine arabische Herberge in einer der dunklen Gassen Ostjerusalems, der Erzähler zwischen fleckigen Intifada-Postern an den nackten Wänden in einem schäbigen Sessel lungernd, eine Flasche mit undefinierbarem Inhalt leerschlürfend.

Und dann erblickt er im Schummerlicht unter den Gästen eine bekannte Gestalt: Das kann doch nicht wahr sein! Ist's aber doch, und wie sich die grellen Angeber-Attribute im Satz verabschieden, so gibt's in der Realität ein ganz besonderes Willkommen: Der kleine Unterschied tritt auf. Und zwar in Gestalt eines langen, schlaksigen Studenten aus Prag, dem der Erzähler am 21. August 1990, 14 Uhr, auf dem Wenzelsplatz das erste Mal begegnet ist.

Woher er das noch so genau weiß? Kunststück: Beiden kullerten damals die Tränen wie zwei Vorschulknaben, durch einen Wasserschleier glotzten sie hellwach in eine neue Zeit. Kein Popstar war da zu besichtigen gewesen, weder eine Striptease- noch eine religiöse Massenerweckungsshow wurde geboten.

Inmitten der vielen Menschen mußten sie sich damals nur in die Rippen boxen, der böhmische und der sächsische Ossi, um zu kapieren: Der sich da oben auf dem Balkon in Verlegenheit pausenlos räusperte, war der Dramatiker Havel, der nun als Präsident Havel zum erstenmal in Freiheit der Niederschlagung des Prager Frühlings gedachte. Und das kleine schüttere Männlein neben ihm war Dubćek. Mit diesen Namen waren die zwei aufgewachsen, lasen in ihren Landessprachen auf grauem Zeitungspapier Verleumdungen und Denunziationen und hatten das Gefühl, alles bleibe so, wie es ist. Endlose Jahre und Tage. Und Nächte, in denen die Dioden auf den volkseigen produzierten Recordern Sturm liefen: RIAS 2 oder Radio Europe, Chart-Hits und Beiträge, in denen nicht gelogen wurde. Und nun dieser Regentag in Prag, der mit allem falschen Dunst endlich Schluß machte.

Salam, alter Kumpel, wir zelebrieren den kleinen Unterschied. Weil das, was die Wessis nicht schnallen, eben nicht beliebig, zufällig und austauschbar ist. Da kennen wir kein Pardon, da lassen wir ungebrochen unsere Ost-Identität, die in der Nichtkapitulation vor östlicher Realität bestand, hochleben. Da können alle Salat-Orgien sämtlicher Land-WGs der Post- Apo-Zeit nicht mithalten, das versichern wir uns in felsenfestem Glauben.

Und weil der Erzähler nun einen passenden Abschluß sucht, sei nicht verschwiegen, wie die Begegnung endete: mit starken Hungergefühlen natürlich. Also begaben sich die beiden aus dem Schutz der Herberge hinunter ins Gewühl enger Gassen, die jetzt nach Mitternacht völlig verwaist waren und rechts und links von den heruntergezogenen, rostigen Jalousien der Läden begrenzt wurden. Hatte sie eben noch manches Flunkerlicht im Düsteren als Fata Morgana orientalischer Gastlichkeit gelockt und genarrt, so sahen sie nun hinter jedem Mauervorsprung ein Messer blitzen, was ihnen um so mehr erleichtert wurde, als sie tatsächlich ohne alle Halluzinationen Schatten sahen, die ihnen lautlos folgten.

Die beiden Ex-Ossis ergriff Panik, sie rannten los, verfehlten den Weg, ratschlagten in Sekundenschnelle über mögliche Umkehr, fanden mit unverschämtem Glück die Gasse zur Herberge dann doch wieder und rannten und rannten.

Inmitten japsender Atemstöße sandten sie Namen in die Jerusalemer Nacht, deren immer mehr wurden: Schließlich suchten sie den Namen des Helden aus Milan Kunderas „Unerträglicher Leichtigkeit des Seins“; und das war keineswegs unwichtig.

Keuchend am Tor ihrer Unterkunft angelangt, fiel es beiden wieder ein: Tomas, natürlich. Und die Schatten waren plötzlich weg. Was für den West-Leser nun das abrupte, unlogische Ende einer nicht sonderlich meisterhaft beschriebenen Verfolgungsjagd sein könnte, war für die beiden mehr. Es war ein blauer Skoda, der da mitten in Asien durch ihre Gedanken tuckerte.

Des Erzählers Lehrmeister im Osten, ein früherer Bereitschaftspolizist, fuhr so einen, und machte dieser Mensch dem Lehrling ob dessen politischer Unbotmäßigkeit das Leben zur Hölle, so dachte der einfach an Tomas, der im blauen Skoda von Frau zu Frau und von Land zu Land gebraust ist – und schon war alles wieder gut, die Gemeinheiten relativiert und halbwegs überwunden.

Dem Kerl aus Prag muß er das natürlich nicht lang und breit erklären, eine Andeutung genügt. Sie waren alle mit solchem Lehrmeister aufgewachsen und hatten manchmal das Glück, sich einen blauen Skoda vorzustellen, um innerlich frei alles hinter sich zu bringen und nun Freitagnacht in der Nähe des Damaskustores in Jeruslaem herumzujagen und Witze zu reißen über die diversen Arten, zu Tode zu kommen, die man hier geboten bekommt.

Und nicht grundlos hoffen sie, daß der kleine Unterschied auch weiterhin eine schußsichere Erinnerungs-Weste sein wird, in der man unbesorgt durch die Welt gondeln kann, ohne je ernsthaft Schaden zu nehmen oder sich zu langweilen. Marko Martin

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