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Auf der Suche nach der Orientierung

■ Beim Kirchentag bleiben Foren gegen Fremdenhaß und Armut „merkwürdig unkonkret“ /Von Heide Platen

Angelika, Marco, Beatrix und Felix sitzen vor dem Marionettentheater neben dem Bremer „Orientalischen Café“ und hören einem Mädchen zu, das mit leiser Stimme die Texte zwischen den einzelnen Szenen der Puppenbühne vorliest. Ganz eng aneinandergekuschelt hocken sie da, vollkommen gefangengenommen. Dies ist, wiederum und wie in den vergangenen Jahren auch, ein Kirchentag der orientierungssuchenden, jungen Leute, der Schülerinnen und Schüler, die mit bunten Ruck- und Schlafsäcken und leichtem Gepäck gekommen sind, übermüdet in den Hallenecken und Ruhezonen einschlafen, aufwachen und einander ansehen, miteinander reden, zaghaft Händchen halten, lachen und staunen. Der Münchner Gastronomie und den Taxifahrern gefallen diese Gäste des 25. Deutschen Evangelischen Kirchentages (DEKT), der morgen um 10 Uhr in München mit einem großen Abschlußgottesdienst endet, nicht so sehr. Die „jungschen Leit'“, sagte einer, „die bringa ka Göld in de Stadt“.

Aber sie bringen ganz offensichtlich Leben in den DEKT. Am ersten Tag waren viele von ihnen zwischen den insgesamt fast 3.000 Diskussionsangeboten und Veranstaltungen eher irritiert auf der Suche nach dem, was sie erwartet und erhofft hatten: Antworten auf drängende Fragen der Zeit, auf Ausländerhaß, Morde, das Versagen der Politik, Alternativen zur Festung Europa, Not und Elend in Deutschland und in der Welt. Am Freitag hatten sie längst selbst die Initiative ergriffen. Überall an den Stellwänden, auf freien Flächen taten sie ihre Meinung kund mit Schriftzügen und Spruchbändern, Gedichten und Anklagen: „Solidarität mit den Angehörigen der Ermordeten von Solingen“, „Ihr redet nur, ihr tut nichts“.

Das, was sich da artikulierte, kam vielen bei den ersten, großen Hallen-Veranstaltungen zu kurz. Nicht, daß das von den OrganisatorInnen so gewollt gewesen wäre. Aber: Die DiskutantInnen waren sich meist so einig, daß kontroverse wie konstruktive Diskussionen nicht so recht aufkommen wollten und wohlformulierte Kanzelworte viel Raum hatten. Der sächsische Ministerpräsident, Professor Kurt Biedenkopf, lächelte im Forum „Armut in Deutschland“ so milde vom Podium herab und sagte so Vernüftiges, daß sich seiner Kontrahentin, Professorin Ilona Ostner aus Bremen, ein Seufzer entrang: „Wir haben weitgehend Übereinstimmung.“ Sie versuchte, den Sozialstaatsüberlegungen des Landesvaters aus Leipzig, der Hilfe gezielt nur noch an jene verteilen will, „die es wirklich nötig haben“ und der „seit über zehn Jahren“ für eine Grundrente im Alter plädiert, den feministischen Anspruch an neue Verteilungsmodelle entgegenzuhalten. Ostner wandte sich gegen eine schlichte Umverteilung. Dies alles sei eben nicht nur eine „Frage des Geldes“, sondern der „Sphärengerechtigkeit“, also auch der Umverteilung gesellschaftlicher Arbeiten und Verpflichtungen. Sie stellte zum Schluß der Debatte fest: „Jetzt fangen die Kontroversen eigentlich erst richtig an.“

Um so ratloser und holpriger mußten die auf das Podium geladenen arbeitslosen Frauen und Männer aus Sachsen wirken, die ihre Sorgen und Nöte nur mit zitternder Stimme und in kurzen Fragen nach Unterstützung für junge Paare, arbeitslose Jugendliche und Kriegsversehrte vorzutragen vermochten. Eine Dresdnerin, zu Beginn der Verstaltung noch stolz auf ihre Landsleute, stellte am Schluß fest: „Etwas kleiner wäre es denen bestimmt lieber gewesen, als das da oben, die große Halle auch noch, Mikrophon und Ministerpräsident.“

Die grundsätzlichen Kontroversen zwischen den evangelischen Christen im Osten und Westen haben eine lange Geschichte. Diese sollten eigentlich am Donnerstag im Eisstadion auf dem Olympiagelände zur Sprache kommen, blieben aber ebenfalls merkwürdig unkonkret und erschöpften sich fast ausschließlich wechselnden Vorwürfen, sich gegenseitig nicht oder mißzuverstehen. Der rheinische Präses und Ratsvorsitzende der EKD, Peter Baier, klagte, er habe sich das „alles ganz anders vorgestellt“. Er habe permanent das Gefühl gehabt, „im falschen Ballhaus“ zu sein. Wenn schon nicht in der Vergangenheit, so sah der Wolfsburger Superintendent Hichrich Buß doch neue Probleme miteinander in Gegenwart und Zukunft voraus. Während die West- Kirchen ihr „Profil vor lauter Pluralismus“ selbst nicht mehr recht erkennen könnten, müsse die Kirche im Osten das Gespräch mit Andersdenkenden noch erlernen. Er lobte ihre „Einfachheit“, was widerum Proteste aus dem Publikum gegen die „da oben überheblich“ Dozierenden provozierte. Eben darum, sagt Diakon Werner Simon – und wendet schnell das Wort von der Ausgrenzung, das ihm herausgerutscht ist, positiv – stehe das Interkulturelle Zentrum der Münchner Ausländergruppen mit seinen blauen Zelten vor den Toren des Kirchentages: „Hier kann jeder kommen, wir haben eine persönlichere Atmosphäre und nicht so viele Prominente.“ Die „kleinen Leute“ sollen zwischen den Veranstaltungen mit Gruppen aus Indien, Kurdistan, Afrika, Musik, Tanz und Spiel zu Wort kommen. Simon: „Wir sind hier der bunte Schmetterling.“ Auf der anderen Straßenseite drängen sich die Neuankommenden um einen Stand mit einer Unterschriftenliste zur doppelten Staatsbrügerschaft.

Über 2.000 Menschen waren in den Circus-Krone-Bau gekommen, um den Wittenberger Pastor und ehemaligen DDR-Oppositionellen Friedrich Schorlemmer zu hören. Schorlemmer wandte sich gegen die „Gewalt der Zunge“, gegen Denunziationen bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Die ZuhörerInnen applaudierten heftig, als er sich gegen Ausländerfeindlichkeit wandte und einen Weg in die Zukunft wies. Dazu bedürfe es weniger der Gesetze zur Integration, sondern eher eine „Mitempfindsamkeitskultur im Durchsetzungskult unser Effizienzgesellschaft“. Oder einfacher: „Denkt an der Fremdlinge Herz!“ Dort appellierte auch die Tochter von Martin Luther King, die Schauspielerin Jolanda King, gegen die Attentate gegen Ausländer. Gewalt sei „Feigheit“, aber „gewaltlos leben ist mutig“. Sie versuche nicht, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten, die seien „zu groß“ für sie. Ihr Weg sei die Kunst, aber sie verstehe die Angst der Menschen vor Attentaten nur zu gut, weil auch ihre Familie immer in Angst davor gelebt habe. Sie habe das aber als Kind verstanden, weil ihr Vater auch für ihre Rechte auf eine freie, ungehinderte Bewegung in der Gesellschaft im Gefängnis gesessen habe.

In Halle 21 begann gestern morgen das Forum „Fremdland Deutschland“. Claude Kalume Mukadi vom Münchner Ausländerrat berichtete über die Veränderungen, die er in Deutschland in den letzten Jahren erfahren hat: „Früher war ich ein gern gesehener Gast, der mit Würde behandelt wurde.“ Heute sei er Angriffen ausgesetzt: „Ich kann doch meine Hautfarbe nicht übermalen. Ich muß sie nennen, wie sie in dieser Sprache heißt – Schwarz.“ Was zu tun sei, fragt ihn der Frankfurter Manuel Campus. Mukadi schweigt kurz, denkt nach: „Meine Wohnung ist für jeden offen.“ Und: „Ich glaube an Gott!“ Campos interpretiert dies als den „Weg offener Herzen, offener Türen und des notwendigen Schreis“, den „ich in deiner Stimme gehört habe“.

Die wenigen Proteste auf dem Kirchentag mit der Losung aus Paulus' Römerbriefen „Nehmet einander an“ kommen vor allem aus alttestamentarisch bibelfesten, evangelikalen Gruppen. Sie artikulieren sich vor allem vor den Hallen. Dort patrouillieren unermüdlich junge und ältere Menschen mit Plakaten auf Rücken und Bauch. Eine junge Frau teilt so schriftlich mit: „Gott haßt Unzucht – die Kirche duldet sie“. Ein anderer beschwört auch noch den Zorn dieses hassenden Gottes über die gottlose Versammlung. Inzwischen hasten zwei junge Leute vom Ring Christlich Demokratischer Studenten (RCDS) durch die Presseräume und verteilen ein Blatt mit der Frage: „Billigt Kirchentagsleitung RAF-Stand?“ Gemeint ist der Stand in Halle 22, in der die „Angehörigen der politischen Gefangenen“ um Unterstützung bitten. Der RCDS zieht die Parallele zu dem Anschlag von Solingen und geißelt „die Nachlässigkeit der Kirchentagsleitung“. Gegenüber wirbt das „Schwarze Kreuz“ um Verständnis für Gefangene mit einem Tisch voller handfester Wackersteine: „Der werfe den ersten Stein“.

In einer Ecke der Halle 21 wenden sich die „Lebenschützer“ mit mehreren Ständen gegen die Abtreibung. Aus einem üppigen Gebinde roter Papierrosen und – Osterglocken ragt ein Monitor, der das Bild der zweifelsohne geborenen Besucher wiedergibt. Je ein Paar Miniatur-Babyfüßchen gibt es als Kettenanhänger – je nach Wunsch versilbert oder vergoldet. Eine Resolution mit 3.000 Unterschriften wollen sie der Kirchentagsleitung bis morgen vorlegen können. Wenn der Andrang bei ihnen so anhält, wie schon am Donnerstag und am Freitag, werden sie das wohl auch schaffen. Ob es am „Nehmet einander an“ liegt oder an eigenem, intensivem Nachdenken, mag eine von ihnen im Kirchentags-Café nicht verraten. Sie habe sich, sagt sie, inzwischen überlegt, daß das Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Paragraphen 218, über das sie sich anfangs gefreut habe, vielleicht doch nicht so toll sei: „Das ist ungerecht. Das richtet sich doch nur gegen die armen Frauen.“ Und: „Den Karrierefrauen ist das doch ganz egal.“

Währenddessen wirbt die Evangelische Frauenarbeit mit dem Schriftzug „Dem Machbaren widerstehen“ gegen die medizinische Indikation nach einer Fruchtwasseruntersuchung, mit der Behinderungen eines Kindes schon lange vor der Geburt festgestellt werden können. Mit je fünf getrockneten Bohnen können BesucherInnen ihre Meinung kundtun. Das Glas mit der Aufschrift „Auch Behinderte haben ein Recht auf Leben“ ist am vollsten.

Die lila Halstücher, vor zehn Jahren noch als Symbol gegen die Nato-Nachrüstung getragen, sind wieder dahin verbannt, wo sie hergekommen waren. Sie schmücken den Stand der Feministinnen vom Ökumenischen Rat der Kirchen und einiger Frauen rund um den Emma-Stand, an dem Alice Schwarzer Rede und Antwort steht. Dafür unterliegt das Outfit der HelferInnen einer strengen Kritik des jungen Publikums. Die seien ja meist, heißt es da, „alle sehr nett“, aber „diese schrecklichen Halstücher!“ Die sind, rund um den Schriftzug „Helfer“ in bayerischem Weißblau gehalten.

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