: „Soziale Explosion“ in der Ukraine
■ Streikende Bergarbeiter fordern Rücktritt des Präsidenten
Kiew (dpa) – Die Ukraine steht kurz vor einem Generalstreik. Die „soziale Explosion“, wie die Moskauer Komsomolskaja Prawda die Streikwelle nennt, hat die Kiewer Führung kalt erwischt. Seit Monaten streiten sich Präsident Leonid Krawtschuk, die Regierung und das Parlament, wer mit welchen Vollmachten welche Reformschritte mit zweifelhaften Erfolgsaussichten durchführen darf. Doch seit der jüngsten Runde von Preissteigerungen bei Wohnungen, Lebensmitteln und Verkehr entlädt sich der lange angestaute Unmut der Bevölkerung.
Im Kohlenrevier von Donezk, dem Herz der ukrainischen Energiegewinnung, stehen die Gruben still. Der Protest breitet sich in anderen Gebieten und Gewerkschaften aus. „Geld haben wir keins mehr im Haus und wir essen seit Tagen nur noch Kartoffeln mit Sonnenblumenöl“, heißt es.
Die Antworten der neuen Arbeiterbewegung auf die Not klingen nach Rückkehr zur alten Ordnung: Monatliche Lohnerhöhungen entsprechend der Preissteigerung, „Weg mit den kommerziellen Strukturen, die sich wie Parasiten an der Not bereichern“, „Zügelung des Bankenunwesens“. Doch die Kumpel wollen mehr als Geld: In den 41 Kohlegruben und den Baukombinaten und Busdepots, die sich dem Streik angeschlossen haben, ist immer häufiger die Forderung nach einem Rücktritt Krawtschuks zu hören. Weil Kiew nicht mit den Problemen fertig wird, wollen sie wirtschaftliche Selbstbestimmung ihrer Gruben, die Autonomie ihrer Region.
Krawtschuk fand auf die massive soziale und politische Herausforderung noch keine Antwort. Vor allem die Autonomieforderung läßt bei ihm die Alarmglocken schrillen. Er steuert einen Mittelkurs zwischen dem ukrainisch- national gesonnenen Westen des Landes und dem eher russisch geprägten Osten, aus dem jetzt die Streikwelle kommt. Die Ukraine könnte zerbrechen, wenn die Sehnsucht nach sozialer Geborgenheit in eine Bewegung zurück nach Rußland, zurück zur Union umschlägt. – Doch ein von Krawtschuk angekündigtes, nur vage beschriebenes Paket wirtschaftlicher Maßnahmen stieß bei den Streikenden auf taube Ohren. „Krawtschuk ist nicht auf unsere Forderungen eingegangen“, hieß es im Streikkomitee von Donezk nach der Fernsehrede des Präsidenten. „Wir halten durch, bis sie erfüllt sind“.
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