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Der Fortschritt und der Säbeltiger

■ Die 5. Hamburger Begegnung im Zeichen zeitgenössischer Musik mit wenig Publikum

„Ich bin aber fortschrittlicher, sagte der Säbelzahntiger, bevor er die Maulsperre bekam und ausstarb“, illustriert der hannoversche Komponist Alfred Koerppen seine Bedenken zum Thema „Neuheit“. Der Fortschritt, warnt er, könne auch in die Irre führen. Dem Gedanken würde wahrscheinlich auch sein 80jähriger polnischer Kollege Witold Lutowlawski zustimmen. Auch er ist kein Revoluzzer der Musikgeschichte. Trotzdem stand da ein sehr ungleiches Paar im Mittelpunkt der 5. Hamburger Begegnung im Zeichen zeitgenössischer Musik 1993, veranstaltet von der Orchesterakademie Hamburg und der Freien Akademie der Künste in Hamburg - hier der international bekannte und anerkannte polnische Komponist, dort der eher regional bekannte Tonsetzer, seit Jahrzehnten Tonsatz- und Kompositionslehrer an der Hochschule für Musik und Theater Hannover.

Von Donnerstag bis Sonntag gab es in elf Veranstaltungen Gelegenheit, sich mit Neuer Musik zu beschäftigen. Vor dem Abschlußkonzert verdeutlichte ein Sprecher des Orchesters der Musikhochschule, in dem Musiker aus 13 Nationen zusammenspielen, wie die Studenten ihre Teilnahme an diesen Tagen der Begegnung verstanden wissen wollen: „Das Morden von Solingen ist kein Minderheitenproblem. Wir stehen auf gegen Rassismus und Menschenhaß“.

Zwei geplante Veranstaltungen fielen aus. Lutoslawki, mit dem ein Komponistengespräch geplant war, hatte kurzfristig abgesagt. Vladimir Toncha und Inna Toncha aus Moskau, die am Freitagnacht Werke für Violonchello und Klavier spielen wollten, hatten kein Visum bekommen.

Am Eröffnungsabend standen Werke Alfred Koerppens im Mittelpunkt. Der Komponist, 1926 in Wiesbaden geboren, hat ein umfangreiches Werk vorzuweisen, darunter viele Vokalkompositionen. Als Auftragskomposition der Orchesterakademie erklang „Continuo“ mit dem gelehrigen Untertitel „Personanz mit sieben Soli, Augmentation und Stretta.“ Der Titel soll hinweisen auf einen immerwährenden Klang, der das Stück durchklingt und von sieben Soli unterbrochen wird, in dem volltonale und atonale Passagen wechseln. Die acht lateinischen Hymnen nach Vergilius Maro für gemischten Chor a capella mit dem Titel „Georgica“ schienen dem Brahms-Chor Hannover wie auf den Leib geschrieben. Die teilweise überraschend tonal gehaltenen Kompositionen, oft im romantischen Habitus und auch die Neigung des Komponisten zur Musik der Gregorianik zeigend, ermöglichten es dem sehr kultivierten Chor, auf gewohnten Bahnen zu wandeln.

Lutoslawski, Jahrgang 1913, hat in den Fußstapfen Bartoks begonnen. 1956 wendet er sich den im Westen verbreiteten Techniken wie der Dodekaphonie zu. 1961, angeregt von John Cage, benutzt er zum ersten Mal aleatorische Techniken.

Die verschiedenen Konzerte vermittelten einen Einblick in die Bandbreite seines Schaffens. Das Hamburger Jugendorchester spielte am Samstag die Mala Suite (Kleine Suite) von 1951, die auf Melodien aus Tänzen und Volksweisen basiert. Das Orchester der Musikhochschule spielte das Konzert für Orchester von 1954, ein folkloristische Elemente aufweisendes Stück, in dem Bläser und Schlagzeuger glänzten. Höhepunkt der Reihe war aber das Konzert der Polnischen Kammerphilharmonie unter der Leitung von Zygmunt Rychert. Die Sopranistin Zofia Kilanowicz sang „Chantefleurs et Chantefables“, Lieder nach Gedichten von Robert Denos ausdrucksvoll und spannend. Viel Applaus auch für den Geiger Krzystof Jakowicz, der die Partita für Violine und Orchester spielte.

Oliver Korte und Marco Ciciliani erhielten den zweiten und dritten Kompositionspreis der Stiftung der Freunde der Hamburger Musikhochschule. Zwar drängelte sich das Publikum nicht, aber der Applaus für Hochschulorchester, Jugendorchester und die polnische Kammerphilharmonie dürfte die Veranstalter ermuntern, weiterzumachen.

Helga Wallschlag

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