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Von Angesicht zu Angesicht

■ betr.: "Nach Solingen: Ausländer - wehrt Euch!" von Ralph Giordano, taz vom 1.6.93

betr.: „Nach Solingen: Ausländer – wehrt Euch!“ von Ralph Giordano, taz vom 1.6.93

Ich habe die Hoffnung aufgegeben, daß die Deutschen jemals Menschen nichtdeutscher Herkunft in ihrer Menschenwürde anerkennen werden. Seit fast 30 Jahren haben meine Familie und ich, Freunde und Bekannte sich wahrlich intensiv um „Integration“ bemüht: Um angenommen zu werden, haben wir unsere Wohnungseinrichtungen, die Art, uns zu kleiden, unsere Speisen zuzubereiten und und... deutschen Normvorstellungen weitestgehend angepaßt. Wir haben es hingenommen, daß unsere kulturelle Identität gleichgesetzt wurde mit Kebap, Döner und derbem Bauchtanz und selbst in Kauf genommen, daß unsere Kinder ihre Muttersprache nicht mehr verstehen. Meine äußere Erscheinung kommt deutschen Vorstellungen, wie eine waschechte Deutsche auszusehen hat (???) sehr entgegen. Ich spreche akzentfrei deutsch. Spätestens dann aber, wenn ich meinen Namen sage oder niederschriebe, beginnt das große Rätselraten darum, wie es sich verträgt, daß ein Mensch, dem offensichtlich etwas Fremdes anhaftet (selbst wenn es nur der Name ist) und der – wie sich bald herausstellt – in der Tat kein Deutscher ist, in der Lage ist, perfekt deutsch sprechen zu können. Wahrscheinlich müßte ich mich nur noch „Lieschen Müller“ nennen und mir eine neue Vita zulegen, um in der Dumpfheit deutscher Normalität völlig unterzugehen. Selbst der deutsche Leser dieser Zeilen wird wohl meine Überzeugung teilen, daß ich mir dann gleich einen Strick nehmen kann – ganz abgesehen davon, daß meine Familie meine nicht-deutschen Freunde und ich gerade deshalb von unseren sogenannten deutschen Freunden geschätzt werden, weil wir eben nicht so sind wie sie, sondern uns durch Verhaltens- und Lebensweisen auszeichnen, die sie (wie mir verschiedenfach berichtet wurde) in ihren eigenen, nämlich deutsch-deutschen Beziehungen zutiefst vermissen: Freundschaft, Herzlichkeit, Großzügigkeit, Lebendigkeit usw.

Was die viel zitierte traditionelle deutsch-türkische Freundschaft anbelangt, möchte ich eins klarstellen: Werden nicht bald eindeutige politische Zeichen gesetzt, die Türken und anderen Nicht- Deutschen hier ein angstfreies Leben ermöglichen (mehr verlangen wir nicht), stehen Deutschland noch sehr erlebnisreiche Zeiten bevor. Das, was sich in den Tagen und Nächten nach jener Greueltat auf den Straßen Solingens und anderswo ereignete, war nur ein Vorgeschmack dessen. Nicht umsonst hat Ministerpräsident Inönü wiederholt seine Landsleute zu Ruhe und Besonnenheit aufgerufen. In einem Land, in dem die elementaren Formen zivilisierten Lebens, nämlich die Unversehrtheit von Leib und Leben, nicht mehr bestehen, ist es um die demokratische Verfaßtheit von Staat und Gesellschaft schlecht bestellt. Es wäre die Aufgabe der Deutschen, ihren vielbeschworenen demokratischen Rechtsstaat und damit auch uns zu schützen. Sind sie – aus welchen Gründen auch immer – nicht dazu in der Lage, werden die bedrohten Minderheiten, in erster Linie Türken, die Sache selbst in die Hand nehmen. Sie sind keine Unmenschen; kein Türke wird jemals Menschen anzünden, aber sie werden sich wehren. Von Angesicht zu Angesicht (auch dem Feind gebührt Ehre) werden sie sich zur Wehr setzen: mit Worten, Taten und allen in der Situation erforderlichen Mitteln. Darüber sollte jeder Deutsche sich im klaren sein. Zuhal Bayraktar, Aachen

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