Freundin der italienischen Oper

Männer pinkeln einen Transzendenzbogen, Frauen wässern bloß die Erde – mit Thesen wie dieser kam Camille Paglia im letzten Jahr in Mode. Wieviel Wahrheit steckt in solchen sexuellen Klischees? Ein Interview  ■ von Thomas Groß und Anke Westphal

taz: Schon vor rund 50 Jahren schrieb die Dichterin Claire Goll: „Ich kann Frauen nicht ausstehen. Wer pißt gegen die Mauer? Der Mann. Wer betätigt sich in der Liebe? Können Sie sich vorstellen, daß Gott eine Frau wäre? Die Frau ist eine Null, nichts als eine Anhäufung von Eierstöcken, und ich nehme mich nicht aus“. Das müßte doch ganz in Ihrem Sinne sein ...

Nun, was in „Masken der Sexualität“ und den Essays drinsteht ist das Resultat mit der Zeit gesammelter Einsichten. Ich meine, die Passage, die Sie gelesen haben, hat gewisse Ähnlichkeiten mit Stellen bei Huysmans und anderen Figuren des späten 19. Jahrhunderts. Was ich versuche, ist, ein Phänomen zu erklären, das die feministische Ideologie gerne „Misogynie“, Frauenhaß, nennen würde. Ich dagegen redefiniere solche Passagen als Bestandteil einer mehrtausendjährigen Geschichte der Furcht vor Frauen. Vor 25 Jahren, als ich in den Sechzigern als junge Feministin anfing, dachte ich, Geschlechtsunterschiede gebe es im Grunde nicht, sie wären nur sozial konstruiert. Aber mit den Jahrzehnten, die vergingen und den Studien, die ich darüber verbrachte, gewann ich eine andere Sicht auf die Weltgeschichte und die Kultur. Durch Selbst- und durch Fremdbeobachtung, bei homo- und heterosexuellen Kontakten, bin ich zu der Überzeugung gekommen – und die Neunziger bestätigen mich darin –, daß man die Wahrheit in gewissen sexuellen Klischees über Mann und Frau wiederentdecken muß.

Ihre Revision der Kulturgeschichte beruht im wesentlichen auf zwei Begriffen: dem Dionysischen und dem Apollinischen, denen die Dualismen weiblich/ männlich und Natur/Kultur zugeordnet werden. Kommt man wirklich mit bloß zwei Begriffen im Gepäck um die Welt?

Was ich anbiete, ist eine wesentlich komplexere Sicht der Dinge als dies bei gängigen feministischen Ideologien oder Weltanschauungen der extremen Linken oder auch Rechten üblich ist. Ich bringe es nämlich fertig, so etwas wie eine westliche Version der fernöstlichen Vorstellung von Yin und Yang zu schaffen. Mein Denken ist sehr stark vom Buddhismus und vom Hinduismus beeinflußt, das ist ja überhaupt ein Merkmal meiner Generation. Die Dichotomie von dionysisch und apollinisch umfaßt sowohl Politik als auch Psychologie. Sie in Deutschland kennen das von Nietzsche, aber tatsächlich stammt die Idee von Plutarch. Ich will ihnen mal ein Beispiel aus der amerikanischen Sozialgeschichte geben: ich bin 1947 geboren, wuchs in den Fünfzigern heran. Als Zugehörige der italienischen Volksgruppe und obendrein als Frau hatte ich da ziemlich wenig zu lachen, genau wie die Schwulen, die Schwarzen und die Juden. Die Fünfziger waren in einem ganz rigiden, eindimensionalen Sinn apollinisch. Dieser Exzeß des Apollinischen in den Fünfzigern brachte als Reaktion meiner Generation in den Sechzigern eine regelrechte Explosion des Dionysischen hervor. Aber: wegen der vorangegangenen Repression war unsere Reaktion selbst zu exzessiv. So kam es zu einer erneuten konservativen Gegenreaktion: Nixon, Reagan und Bush. Ich sage also: wir müssen den Überschlag in den Exzeß korrigieren, sonst bleiben wir immer in dieser destruktiven Pendelbewegung. Wir müssen in diese industrialisierte Welt das Vermögen einbringen, sowohl unsere apollinischen als auch unsere dionysischen Bedürfnisse zu befriedigen und zu einem Sinn von Geschichte zurückfinden.

Sie sprechen von einem Masterplan der Natur – Zeugung, Fortpflanzung, Ausgleich, ein organisches Weltbild. Das wollen Sie tatsächlich auf Politik und gesellschaftliche Verhältnisse übertragen? Auf Jugoslawien, den Untergang des Sozialismus?

Gerade Jugoslawien hat meine Sicht der Dinge bestätigt. Ich habe mehrmals gesagt, daß die politischen Verhältnisse seit dem ersten Erreichen eines gewissen Komplexitätsgrads in Mesopotamien repressiv sind. Gerade das gibt aber auch Sicherheit, Regeln, es sorgt für einen Überfluß, aus dem Kunst hervorgehen kann und eine verbesserte Stellung der Frau. Ich habe wiederholt aus meinem Interesse für Alte Geschichte heraus gesprochen: von der Desintegration, dem Kannibalismus und den Massakern, die es gibt, wenn eine große Machstruktur wie das römische Reich – oder eben auch die Sowjetunion – sich auflöst. Was eintritt, ist dieses wolfsgleiche wechselseitige Sichverschlingen der verschiedenen ethnischen Identitäten – wie bei Dante. In Amerika gibt es aber immer noch diese sentimentalen Positionen, wie man das regeln kann: kein Krieg mehr, wenn das liberale Geschlecht am Drücker ist, alle lieben sich, Love & Peace als natürliche Eigenschaften des menschlichen Geschlechts. Ich dagegen sage aus meiner Kenntnis der Geschichte heraus, daß Identität – ob nun von Völkern oder Personen – im Grunde immer aggressiv ist. Das ist meine Lehre aus Freud, Nietzsche, de Sade. Nennen Sie mir mal jemanden mit einer besseren Geschichtstheorie zur Zeit – okay, es gibt keinen!

Die Massenvergewaltigungen in Jugoslawien passen dann auch in Ihr System ...

Das ist doch gerade der Beweis meines Prinzips! Historisch ist das nichts Neues. Sowas passiert, wenn Gesetz und Ordnung zusammenbrechen. Seit Jahren predige ich den amerikanischen Feministinnen, daß ihre Freiheit, unbehelligt auf der Straße rumzulaufen, ihre ganzen Freiheiten, die sie als moderne Frauen genießen, von unsichtbar anwesenden Rechts- und Gesetzstrukturen abhängt, die sie immer als ganz selbstverständlich hinnehmen. Der gesellschaftliche Zwang, den sie so verdammen, ist gerade ihr Schutz vor der barbarischen Natur! Die Rolling Stones singen in „Gimme shelter“: „rape and murder are just one step away“ – one step away!

Sie stützen sich stark auf Freud. Freud ist nun aber gerade kein Apologet der Natur. Der Hauptakzent liegt bei ihm auf der Triebmodellierung, der sozialen Genese des Selbst. Das ist der Schnittpunkt von Psychoanalyse und Sozialwissenschaften. Mit anderen Worten: Was ein Wesen der Triebnatur anbelangt, gibt es bei Freud eine starke Tendenz zu sagen: Worüber man nicht reden kann, davon sollte man schweigen.

Ich beziehe mich direkt auf Freuds Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“. Gesellschaft ist per se repressiv. Wir in den Sechzigern hatten eine simplifizierte Vorstellung von sexueller Befreiung, wir wollten Sexualität von jeder Vorstellung von Autorität und Disziplin loslösen. Das endete im Desaster. Ich denke, jeder aus den Sechzigern sollte mehr Verantwortung für das Desaster übernehmen, das Aids meiner Generation gebracht hat, für das Massaker an schwulen Männern. Auch ich muß mehr Verantwortung übernehmen. Ich habe zwar kein Aids, aber nur deswegen, weil ich damals keine sexuellen Kontakte hatte. Aber im Grunde haben wir damals alle diese sehr simple Vorstellung der Befreiung primärer Energie umgesetzt, und wir hatten unseren Preis dafür zu zahlen – für unsere Verblendung. Die Geschichte hat ein sehr düsteres Urteil über uns gesprochen.

Mein Argument war: Freud ist kein Essentialist. Er geht nicht von ewigen, übergeschichtlichen Kräften aus, die sich nur neue Gestalt suchen.

Mein Gott, ich doch auch nicht! Meine Begriffe auf einen biologischen Determinismus reduzieren zu wollen, ist doch absurd!! Ich bin jemand, der 700 Seiten über die Geschichte der Kunst geschrieben hat, die Gechichte gemachter Dinge. Ich sage einfach nur, daß Wörter und Sprache nicht ausreichen, um zu beschreiben, was da draußen in der Geschichte ist. Das Problem mit dem Femininsmus und der gängigen liberalen Ideologie ist, daß sie so versessen auf Wörter sind. Sie glauben eben, daß Wörter oder die Manipulation von Wörtern etwas an dem ändern kann, was immer da draußen sein mag. Mein komplexes System essentialistisch zu nennen, ist lächerlich und muß verworfen werden. Okay machen Sie weiter.

Sie gehen aber von einer Einheit von Frau und Natur aus. Vernachlässigt diese Annahme nicht, daß Frauen längst ebenso fragmentarisiert und zersplittert sind durch den Zivilisationsprozeß? Ihr Denken geht doch von der Annahme einer intakten Ursubstanz aus.

Noch einmal: Das ist das Resultat einer Entwicklung in meinem Denken. Nach Jahrzehnten bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß die antike mythologische Identifikation von Natur und Frau ihre Richtigkeit hat. Nicht im vollen Sinne, denn Frauen – wie ja auch ich –, sind redebegabt, schöpferisch, haben Karrieren im sozialen Bereich des Apollinischen. Aber der Punkt ist: Aufgrund der Reproduktionsmaschinerie, die sich mit der Pubertät in Bewegung setzt, unterliegt die Frau einem Zwang, über den sie keine Macht hat. Das ist zugleich der autobiographische Teil meiner Arbeit: Das alles entspricht meiner eigenen Pubertätserfahrung, der Erfahrung mit der Menstruation. Ich habe keine Erfahrung mit Geburten und keine Lust, sie zu machen, aber es kommt mir so vor, als würde der moderne amerikanische und europäische feministische Diskurs die rohe und brutale und barbarische physische Realität ausklammern, die alle Frauen erfahren müssen. Sie haben Angst, daß die Leute an der Macht das als Entschuldigung dafür nehmen, Frauen von der Macht auszuschließen. Ich sage: Das ist keine Entschuldigung! Aber wir müssen die Wahrheit über dem ganzen sehen, und die heißt: Die Menstruation ist etwas unglaublich Grauenhaftes, wenn man gar kein Kind will. Wir müssen also sehen, daß es sich bei der Angst der Männer vor Menstruation und Geburt nicht einfach um Misogynie handelt. Wir müssen die bourgeoisen Scheuklappen, die zeitgenössische Frauen haben, abnehmen.

Kennen Sie Klaus Theweleit?

Nein.

Das ist ein deutscher Kulturforscher. Ähnlich wie Sie assoziiert er Weiblichkeit mit Körperströmen, Blut, Wasser, Schleim. Aber im Gegensatz zu Ihnen faßt er die Angst davor weniger als Urangst denn als Effekt sozialer Konditionierungen, als männlichen Körperpanzer gegen das Weibliche – von Reich beeinflußt.

Sie erwähnen Wilhelm Reich. Das ist natürlich eine der Figuren, die im heutigen Diskurs fehlen. Für uns in den Sechzigern hat er eine sehr große Rolle gespielt – was für mich einer der Gründe dafür war, daß ich Foucault öde, substanzlos und uninteressant fand, als ich ihn in den Siebzigern las. Viele der Theorien von Reich, die natürlich irgendwie verrückt sind, nehmen Foucault vorweg. Ich weiß aber gar nicht, was das für eine Taktik ist, immer diese Übereinstimmung bei anderen zu suchen. Ich hab es jetzt mehrfach gesagt: ich kann tausend Beispiele finden für das, was ich sage. Das kommt bei mir aus einer Anhäufung von Einsicht und Beobachtung heraus, daß ich zu dieser Wahrheit gelangt bin, und es scheint mir eine sehr schlechte Angewohnheit deutscher Intellektueller zu sein, immer zu sagen: Aha, da haben wir sie jetzt festgenagelt! Nichts mehr jetzt von irgendwelchen anderen Autoren, das ist eine Verschwendung meiner Zeit, eine Beleidigung!!

Vielleicht sind die Deutschen deswegen so spitzfindig, weil Sie aus ihrer Geschichte heraus ein gestörtes Verhältnis zur Wahrheit haben. Bei Ihnen hat man allerdings nicht den Eindruck, daß sie Schwierigkeiten beim Sagen der Wahrheit haben, wie das überall noch in den Achtzigern verbreitet war.

Meine Haltung kommt aus den Sechzigern. Meine Generation ließ in ihrem Kampf gegen gesellschaftliche Repression auch die verwaltete Religiosität hinter sich. Aber ganz gaben wir die Idee einer religiösen Sicht der Dinge nicht preis. Wir suchten, etwa unter dem Einfluß von Hinduismus und Buddhismus, immer noch nach der Wahrheit im Leben, das war das Erbe der Beat-Poeten aus den späten Fünfzigern. Eine der Tragödien des zeitgenössischen Denkens in Amerika scheint mir zu sein, daß die Leute alles durch die Brille des französischen Poststrukturalismus sehen. Die Leute aus meiner Generation, die ich am meisten respektiere, gingen nicht in akademische Berufe, weil da zuviel vom Verlangen nach Geld, Status und Macht bestimmt war. Die echte Vision der Sechziger hat sich nie erfüllt, nirgends in der Welt.

Ihre Vorstellung von Bildungsreform haben ja auch etwas Klösterliches. Wollen Sie das Priesteramt wieder in Wissenschaft und Erziehung einführen?

Ja, das ist richtig. Ich rebelliere gegen das amerikanische System, das sich stark von dem europäischen unterscheidet. In Europa ist die Universität doch noch um die Vorstellung des intellektuellen Lebens herum organisiert. In Amerika dagegen ist das mehr zu einer Art Summer-Camp geworden: Club Med, wo man die Kinder hinschickt, um sie nette Erfahrungen mit anderen machen zu lassen. Ich halte mich da eher an die alte europäische Idee und sage den Jungakademikern: identifiziert euch nicht mit den Leuten, die heute in Amt und Würden stehen. Eure Berufung ist viel älter, geht über die Gründung von Harvard und Yale und Oxford und Cambridge ins Mittelalter zurück. Die Universitäten in Europa hatten alle diese kirchlichen Wurzeln. Ich bevorzuge zwar die Säkularisierung, wo sie die Moral zurückgedrängt hat, aber nicht in dem Sinne, daß wir den armen Leuten Nihilisten als Lehrer vorsetzen.

Mögen sie das französische Denken auch deshalb nicht, weil die darin enthaltene Kritik am sogenannten Phallogozentrismus

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auch eine Kritik am Wahrheitsanspruch von Theorie bedeutet?

Die ganze Vorstellung vom Phallozentrismus ist doch lächerlich, absolut lächerlich. Das ist ein tolpatschiger Verein, der in den sehr delikaten Strukturen von Kunst, Wissenschaft und Politik herumfuhrwerkt. Es hat viel mit dem Mißbrauch des Wortes Patriarchat in der feministischen Rhetorik in Amerika zu tun. Phallozentrismus und Patriarchat sind vollkommen unkomplexe Jargon- Begriffe. Die großen apollinischen Errungenschaften, etwa der Griechen, phallozentrisch zu nennen, ist doch schlicht lächerlich, den Penis als Metapher zu benutzen und zu sagen: Ach, wir meinen ja gar nicht einen echten Penis, wir meinen bloß die Macht der Männer in der Gesellschaft, aber wenn die in der Hand von Leuten mit einem Penis ist, dann ist es ein Penis, Sie sehen, das ist absurd, von Anfang an. Die Leute, alles Professoren und Professorinnen meines Alters, die darauf ihre Karrieren aufgebaut haben, sind echt geschlagen, weil das doch ein Witz ist – ein literarisches Spiel.

Ihre Madonna-Interpretation finde ich ausgesprochen schwach. Madonna wird auf die heilige Hure, die Powerfrau reduziert. In den Achtzigern war doch eher die Künstlichkeit daran interessant, das Spiel mit den Identitäten, die Etablierung von Berühmtheit als Kunstform an sich. Madonna war eine postmoderne Angelegenheit, keine der „Natur“.

Ich kann den Widerspruch nicht sehen. In meinen Essays schreibe ich doch gerade, daß sie die diversen sexuellen Masken verkörpert. Vielleicht lag es an der deutschen Übersetzung. Leider ist Madonna jetzt irgendwie vorbei, ich habe über das Sex-Buch geschrieben, das dumm und uninteressant und von Helmut Newton geklaut ist. Aber sie müssen bedenken, daß Madonna in den Vereinigten Staaten einfach nicht richtig ernst genommen wurde. Ich habe meinen Essay unter anderem deswegen geschrieben, weil sie wieder und wieder vom feministischen Establishment angegriffen wurde. Ich zeige, daß sie einen enormen Einfluß auf junge Frauen in der ganzen Welt gehabt hat. In 20, 30 Jahren wird man das alles sehr viel klarer sehen, den Schatten, den Madonna geworfen hat.

Hören sie auch neuere Popmusik? Wie finden Sie zum Beispiel die Riot Grrrls?

Nun, wir werden sehen, was die Riot Grrrls ausrichten können. Ich bin für die Riot Grrrls, denn das ist es, was wir in Amerika bitter nötig haben: endlich mal wieder eine populistische Bewegung, die aus den Organisationswegen des Establishments – ob nun Feminismus oder Musikindustrie – rauskommt. Ob auch eine wichtige Musik dabei rauskommt, muß abgewartet werden. Vielleicht kommt es auch so – und das fände ich schade –, daß die Riot Grrrls in die Redeweisen des feministischen Establishments abdriften: gegen Männer, gegen Porno. Es hat sehr vielversprechend begonnen, aber in Amerika wird halt alles von dieser Classics- Of-Rock-Schiene beherrscht. Was höre ich hier in Deutschland im Radio? Classics of Rock. Das lastet sehr schwer auf der gegenwärtigen Rockmusik.

Sie selbst nennen ihre Geisteshaltung „italienisch-heidnischen Katholizismus“ ...

Viele Italoamerikaner meiner Generation – Coppola, Scorsese, de Palma – rebellierten gegen die sexuelle Unterdrückung in Amerika, aber wenn man einmal katholisch ist, ist man eben immer katholisch. Der italienische Katholizismus ist aber kein reines Christentum. Martin Luther hatte recht, als er den römischen Katholizismus mit dem primitiven Christentum in Verbindung zu bringen versuchte. Diese ganzen Kulte von gemarterten Heiligen, in denen ich alle Formen homoerotischer und sadomasochistischer Gefühlswelten wiedergefunden habe, sind Teil des heidnischen Erbes.

Sie lieben auch die italienische Oper ...

Kein Zufall, daß Italiener die Oper erfunden haben. Wie wir fühlen und die Welt erfahren – das ist Oper! Gefühle, die den Körper ganz erfüllen. Deshalb habe ich auch Madonna sofort verstanden. Da gibt es dieses triebhafte Tanz- Element in ihrer Musik. Die italienische Oper ist mehr als einfach nur eine Stimme. Und das ist auch heidnisch. Es macht zugleich meine Nähe zur afroamerikanischen Kultur aus. Afroamerikaner haben auch diese zentrale Verschmelzung von Lied, Musik und Tanz.

Das Aids-Zeitalter hat eine ganze Reihe von Apologeten der Leidenschaft hervorgerufen, man muß nur an „Wilde Nächte“ von Cyril Collard denken. Hat Ihr plötzlicher Erfolg als Autorin etwas mit Aids zu tun hat?

Da ist eine direkte Verbindung. In den 70ern wollte mich keiner lesen, weil meine Vision der Sexualität zu düster schien. Ich fühlte das Desaster kommen. Als das Virus in der schwulen männlichen Community zum ersten Mal auftauchte, hatten Humanmediziner sowas noch nie gesehen, bloß Tierärzte. Das war etwas, was mich zu Tode erschreckte. Mir war klar, daß die apollinische Schranke zwischen Gesellschaft und Natur zerbrochen war. Ich fühlte den Schatten über allem, und mein Schreiben über Sex nahm andere Farben an. 1981 war mein Buch fertig, aber niemand wollte es veröffentlichen. Was die Leute nicht hören wollten, war die Tatsache, daß wir die Natur überhaupt nicht unter Konrolle haben, daß Natur dem einzelnen Leben gleichgültig gegenübersteht. Das ist eine so enorme Erfahrung, daß wir 50 oder 100 Jahre brauchen werden, um das zu begreifen. Alles Geld in der Welt wird dieses Problem nicht lösen, weil das ein unglaublicher Horror ist.

Das hört sich apokalyptisch an. Aids also doch als Strafe Gottes?

Die Rechten sagen in so einer Situation natürlich: Oooh, die Strafe Gottes! Für die Sünnnnden der Sodomiiie! Der Allmächtige nimmt Raaache! Diese Mißinterpretation berührt mich nicht weiter, ich glaube nicht an Gott. Trotzdem glaube ich, daß es ein Gesetz der Natur gibt, das wir nicht vollkommen verstehen, und das heißt Reproduktion. Deswegen habe ich ja schon immer gegen die Natur rebelliert, schon lange vor Aids. Wie Captain Ahab in Moby Dick, der die Faust gen Himmel reckt. Meine Helden sind Jimi Hendrix, Jim Morrison, Janis Joplin, Byron, Shelley, Keats – intensiv leben und dann sterben. Das ist es auch, was meine schwulen Freunde getan haben. Sie lebten. Ich respektiere das als einen Akt der Rebellion gegen Konformität und falsche Sicherheit. Sie lebten für die Liebe und die Schönheit, und sie starben für die Liebe und die Schönheit. Das ist die Moral unserer Zeit.

Von Camille Paglia sind bislang auf deutsch erschienen: „Die Masken der Sexualität“, 900 Seiten, 64 DM, und „Der Krieg der Geschlechter“, 38 DM (bei Byblos).