piwik no script img

Maßstäbe für das Staunen

Zwei circensische Programme aus dem Hause Heller machen sich derzeit gegenseitig Konkurrenz: Der chinesische Nationalcirkus und das „Salto Vitale“-Programm im Wintergarten  ■ Von Klaudia Brunst

„Dem Staunen gewidmet“ steht über dem Eingang des großen Zirkuszelts, das in aller Bescheidenheit den Namen des Meisters persönlich ziert: „Heller Raum“ blinkt es in großen Lettern an der Spitze des Zelttuchs. Drunten im Kreisrund turnt und tourt, jongliert und brilliert seit fünf Jahren eine chinesische Kooperative: Sie nennen sich „Chinesischer Nationalcirkus“, legen aber großen Wert darauf, keine offizielle Staatstruppe des maoistischen Einheitsstaates zu sein.

Schon eher stehen sie im Dienste eines österreichischen Impressarios der lyrischen Manegenkunst mit weltumspannendem Sendungsbewußtsein: Irgendwann, irgendwo zwischen dem „Theater des Feuers“ in Lissabon und dem „exzentrischen Privattheater des Maharana von Udaipur“ traf Heller auf die Artisten aus dem Reich der Mitte, erkannte in ihren Künsten die „vollendete Einheit von Geist, Körper und Seele“ und ließ kurz entschlossen ein eigenes Zelt für sie bauen (Herstellungskosten: 2 Millionen Mark). Damit und mit seinem Namen schickte er sie auf nimmerendende Eruropa-Tournee, als Sendboten chinesischer Kulturgeschichte.

In der Tat hat die chinesische Akrobatik eine lange, hochherrschaftliche Tradition: „Zaji“, die Darbietungen des Körpers und des Geistes, hat eine 2.000jährige Geschichte. Akrobaten und Zauberer, Tierdompteure und Tänzer unterhielten über Jahrhunderte den Kaiser und seinen Hofstaat. Jetzt erfreuen sie unsere europäischen Kinderseelen, die bei dreißig Grad im Schatten den Weg unter die Zirkuskuppel gefunden haben und die es offenbar für einen wichtigen Schritt zur Völkerverständigung halten, wenn sie zu den chinesischen Klängen von der Empore in einen (luftfächernden) Klatschmarsch verfallen.

Auch wenn die wenigsten der hier Staunenden die historischen Ursprünge der chinesischen Akrobatik kennen werden – die acht Grundformen dieser Kunst entstanden bereits vor über 2.000 Jahren – , auch wenn uns kein Artist namentlich vorgestellt, keine Darbietung auf ihren Schwierigkeitsgrad hin angepriesen wird: die Gäste aus dem Reich der Mitte beeindrucken ihr Publikum auch so: mit der Perfektion ihrer Bewegungen, mit den Superlativen ihrer Akrobatik überzeugen sie uns wortlos.

Stets fängt es harmlos an: da wird ein Stuhl auf einen anderen gestellt, vielleicht folgt noch ein dritter. Ein paar fernöstlich-bunt gekleidete Menschen nehmen auf der kleinen Pyramide Platz, bauen eifrig weiter – immer höher, immer höher. Und ehe sich das Publikum so richtig versieht, machen sieben Menschen auf einer Pyramide aus zehn Sitzmöbeln einen kerzengeraden Handstand. Jetzt können sie auf die vier grünen Wasserflaschen schauen, die das fragile Fundament des Turmbaus bilden.

Oder die neun Tellermädchen: eine jede mit acht Bambusstäbchen bestückt, wirbeln sie ihr Porzellan durch die stickige Luft, daß es ein Surren und Summen ist. Und als wäre es nicht schon Akrobatik genug, die 72 Tellerchen sicher durch die Manege zu führen, erklimmen sie schlußendlich noch eine wackelige Leiter.

Das Prinzip der schwebenden Superlative bleibt sich über die zwei Stunden hinweg treu. Ob auf dem Fahrrad oder einem baumhohen Bambusrohr, ob mit wassergefüllten Tassen, die durch die Luft geschleudert werden, oder mit dem Rönrad unter der Zirkuskuppel: Es ist ein Schauspiel der Ausgeglichenheit, der körperlichen und seelischen Beherrschung. Als solches ist das Programm, das fast ohne clowneske Komik und ganz ohne schaudernde Tiernummern auskommt, eine sehr ursprüngliche Maßeinheit auf dem Barometer des circensischen Staunens.

Auch der „Wintergarten“ an der Potsdamer Straße ist „dem Staunen gewidmet“. Auch hier, wie im Zirkus am Lützowplatz, ruft ein bombastischer Gongschlag die Zuschauer in den aufwendig gestalteten Kunstraum. Die Handschrift des Meisters Heller ist unverkennbar, auch wenn derzeit sein Vasall Bernhard Paul die Regie übernommen hat.

Nach zwei Varietéprogrammen hat sich der Wiener Gesamtkünstler vorerst von der Berliner Bühne verabschiedet, andere Spektakel rufen ihn mal wieder in die weite Welt. Nun darf daheim, im 10-Millionen-Renomiertheater der rotschopfige Roncalli-Erbe Paul sein erstes Programm zeigen: „Salto Vitale“ sollte ursprünglich einen circensischen Schwerpunkt haben, aber die kleine Bühne des Wintergartens gibt weder Hochseilakrobatik noch Dressurnummern her, und so unterscheidet sich das neue Varietéprogramm von den beiden vorhergehenden kaum. Höchstens dadurch, daß den Veranstaltern, die sich ehrgeizig einen dreimonatig wechselnden Spielplan auferlegt haben, offenbar langsam die (bezahlbaren) Talente ausgehen.

Der Star des zweistündigen Programmes ist zweifellos Anthony Gatto, ein junger Jongleur aus den USA. Als erster Mensch der Welt wirbelt er sieben Keulen gleichzeitig durch die Luft, er steht schon im Guiness-Buch der Rekorde und hätte mit dieser Darbietung auch gute Chancen, bei den Chinesen eine Platz im Team zu bekommen. Ebenfalls herausragend (komisch) ist ein spanisches Trio aus dem United Kindom. Paul Morocco, Antonio Forcioni und der Sänger Alessandro ziehen mit einer gewitzten Mischung aus englischer Comedy und klassischer Jonglage das Grandezza-Gehabe der spanischen Torrero-Folkloristen durch den Kakao. „Flamenco furisoso“ nennen sie ihre turbulente Musiknummer, in der sie zuweilen mit ihren Gitarren auch ganz unmusikalisch Ping-Pong spielen. Ihrer Spiellaune ist es vor allem zu verdanken, daß das Wintergarten- Programm nicht gänzlich in langweiliger Kontemplation versinkt. Ansonsten zeigt Bernhard Paul nicht weniger, aber eben auch nicht mehr als solides Handwerk aus aller Herren Länder: Slapstick- Zauberei aus Rußland, Reprisen- Clowns aus bella Italia. Die beiden niederländischen Equilibristen Ijs en Weder müssen sich gar halbnackt auf einem stilisierten Lotterbett wälzen, um ihrer Darbietung Drive zu geben, und die Coupletsängerin Sara Musinowski, die sich an Claire Walldoff versucht und dafür ausgerechnet im klassischen Marlene-Westchen auftritt, zeigt leider mehr Busen als Charisma.

Hier noch ein bißchen Einradfahren aus Moskau, da noch ein wenig Schattenspiel aus Frankreich. Schon ist ein Multi-Kulti- Menü vorüber, das zu erinnern sich kaum lohnt. Da war mir die chinesische Einheitskost doch allemal lieber.

„Der chinesische Nationalcirkus“, Zeltpalast am Lützowplatz. Vorstellungen bis zum 4. Juli täglich um 20 Uhr.

„Salto Vitale“ im Varieté Wintergarten, Potsdamer Str. 96, täglich, 20.30 Uhr

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen