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Wieviel Schleier schockiert?

Muslimische Schülerinnen in Frankreich kämpfen um den Hidjab / Schulleitungen im Zwiespalt zwischen Toleranz und Neutralität  ■ Aus Aulnay-sous-Bois Bettina Kaps

Das College Victor Hugo liegt in der Vorstadtsiedlung „La Rose des Vents“ in Aulnay, 30 Kilometer vor Paris. Doch der romantische Name hält der Wirklichkeit nicht stand: Nicht blühende Rosengärten trennen die Wohnblöcke, sondern sandige Parkplätze, auf denen gerade mal ein paar staubige Bäume gedeihen.

Auf dem Schulhof überwiegen eindeutig die dunkelhäutigen Gesichter. „Von unseren 1.200 Schülern dürften drei Viertel aus Einwandererfamilien stammen“, sagt Direktor Michel Chéron widerstrebend, denn er mag den Begriff vom français de souche, vom Originalfranzosen, nicht: „Ich weiß nicht mehr, was das bedeutet. Im Schulalltag spielt die Herkunft jedenfalls überhaupt keine Rolle. Unsere französischen Schüler haben mindestens genauso viele Probleme wie die Kinder aus zugewanderten Familien.“ Gewiß seien auch viele Muslime darunter, aber das wisse er nicht so genau, und es interessiere ihn auch nicht.

In den vergangenen Jahren mußte sich der Direktor jedoch mehr mit Religion beschäftigen, als ihm lieb war. Seit 1989 tauchen auch im College Victor Hugo verschleierte muslimische Mädchen auf. In den Nachbargemeinden Creil und Montfermeil hatte damals das religiöse Bekenntnis einiger Schülerinnen zum Eklat geführt. Zwei Schulleiter hatten dort Mädchen vom Unterricht ausgeschlossen, die das Kopftuch partout nicht ablegen und sich dem Sportunterricht entziehen wollten. Die Affäre schlug Wellen. Schließlich hatten die Gründer des republikanischen Schulsystems in Frankreich vor gut 100 Jahren jeglichen religiösen Einfluß aus der Schule verbannt. Wochenlang debattierte die Nation, ob die Verpflichtung der staatlichen Schulen zur Laizität, also zur religiösen Neutralität, das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit einschränken darf oder nicht. Inzwischen hat sich der Staatsrat (das oberste Verwaltungsgericht Frankreichs) zu einem ähnlichen Fall geäußert und den Ausschluß der Mädchen annuliert. Am grundsätzlichen Problem ändert dies jedoch nichts: Es sei Sache des jeweiligen Schulleiters, einen Kompromiß zwischen den widerstreitenden Normen zu finden, so das salomonische Urteil.

Das College Victor Hugo hat den Konflikt zwischen Laizität und Toleranz bislang auf beispielhafte Weise umschifft. Als die ersten verschleierten Mädchen kamen, warf das natürlich viele Fragen auf. „Vor 1989 hatte es das niemals gegeben“, erzählt Chéron. Da es nur „kleine“ Schleier waren und die Mädchen auch an allen Stunden – einschließlich des Sportunterrichts – teilnahmen, zeigten sich die LehrerInnen tolerant. Erst in diesem Jahr gab es einen wirklichen Konflikt: „Latifa, eine unserer besten Schülerinnen, kam im Hidjab zur Schule. Von ihrem Gesicht war also nicht mehr viel zu sehen. Unter den Lehrern gab es daraufhin große Diskussionen. Vor allem die Frauen wollten das absolut nicht tolerieren. Wir haben dennoch versucht, im Kollegium eine gemeinsame Linie zu finden. Zugleich habe ich mit der Familie verhandelt.“ Die Diskussion dauerte Monate, „schließlich wollten wir keinen Druck erzeugen, sondern einen Kompromiß finden, der allen akzeptabel erschien, der die jeweiligen Freiheiten respektiert. Der Vater des Mädchens wollte das auch. Hier war niemand auf einen Eklat aus.“ Das sei so weit gegangen, erzählt Latifas Klassenlehrer François Comba, „daß wir tatsächlich darüber diskutiert haben, ab wieviel Quadrat-Zentimetern ein Schleier schockiert.“ Die Mitschülerinnen standen geschlossen hinter Latifa. Zugleich lehnten sie den Schleier für sich selbst ab. „Ich glaube, daß die Mädchen sehr froh sind, hier in der Schule einen Freiraum zu finden. Und auch die maghrebinischen Familien erwarten von uns, daß wir Glaubenskämpfe aus der Schule fernhalten.“

Die Konfliktlösung sieht so aus: Latifa geht tief verschleiert aus dem Haus. Sobald sie das Schulgebäude betritt, nimmt sie das Tuch ab, unter dem sich ein zweiter, diskreter Schleier verbirgt. „Latifa kann also an ihren Überzeugungen festhalten, zugleich gibt sie uns ein Zeichen, daß sie hier niemanden bekehren will“, interpretiert Chéron das Friedensabkommen. „Das mag anderen vielleicht lächerlich erscheinen, aber für uns hier ist es die beste Lösung.“ Ein wirkliches Problem hätte Chéron erst dann, wenn plötzlich viele muslimische Mädchen verschleiert zur Schule kämen – mit einer solchen Entwicklung könnte er nicht intern fertigwerden, befürchtet der Direktor.

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