: „Ein Kieselstein im Meer“
In Indien macht sich ein Jahr nach dem Erdgipfel Ernüchterung breit: Die reichen Industriestaaten sitzen immer noch am Geldhahn ■ Aus Neu-Delhi Bernard Imhasly
Euphorie, Erschöpfung, Ernüchterung – die drei Phasen des Rauschs eignen sich auch zur Beschreibung der Bilanz des Jahres Eins nach Rio. Wie nie zuvor hatte sich ein gewaltiges Potential globaler Unruhe über die Zukunft des Planeten aufgebaut. Es entlud sich in der Mammutkonferenz in Brasilien und ergoß sich in einer Springflut von Dokumenten. Der Euphorie nach der Verabschiedung eines 700seitigen Aktionsplans, von zwei Grundsatzerklärungen und zwei internationalen Verträgen folgte die allgemeine Erschöpfung. Und heute macht sich Ernüchterung breit. „Natürlich hoffen wir, daß Rio ein Meilenstein ist“, sagt der indische Umweltpolitiker Thomas Matthew. „Aber verglichen mit dem, was sich in der realen Welt abspielt, kommt es mir öfter wie ein Kieselstein vor, den wir ins Wasser werfen, um das Meer in Wallung zu bringen.“
Der Triumph der Entwicklungsländer...
Gerade in Ländern wie Indien ist dieses Gefühl weit verbreitet und steht im Gegensatz zu den triumphierenden Gesten, mit denen die Delegationen aus Rio zurückkehrten. Indien hatte auf dem Erdgipfel eine führende Rolle als Vertreter der südlichen Hemisphäre gespielt. Denn die dort angesprochenen Umweltprobleme sind für Indien alle von zentraler Bedeutung: Versteppung, Entwaldung, Klimaveränderungen, Luft- und Wasserverschmutzung ebenso wie die Verknappung lebenswichtiger Ressourcen.
Die Abschlußerklärungen von Rio und die zwei Konventionen hatten die Hoffnung geweckt, daß mit dem Bewußtsein einer auf Gedeih und Verderb verbundenen Welt der generelle Entwicklungshilfeüberdruß der reichen Industrienationen durchbrochen sei. Die Verhinderung einer Tropenwald-Konvention wurde als Sieg über die reichen Länder empfunden, die versucht hatten, die Schuld an den weltweiten Klimaveränderungen dem Süden in die Schuhe zu schieben, statt ihn im eigenen verschwenderischen Lebensstil zu suchen. Die Klima- und Biodiversitätskonventionen dagegen wurden als Zeichen gelesen, daß die internationale Gemeinschaft auch zu gemeinsamen Lösungen fähig war.
Ernüchterung auch hier: In Indien ist heute die Meinung verbreitet, daß die Dritte Welt in Rio zwar einen rhetorischen Sieg gegen die Industrieländer hatten verbuchen können. Jetzt, da es darum geht, den Worten Taten folgen zu lassen, zeigt sich, daß die reichen Staaten weiterhin ihre Hand am Geldhahn haben. Die Übertragung des „Global Environment Fund“ (GEF) als einziges „Fenster“ für Umweltprojekte an die Weltbank ist ein
... entpuppt sich als Scheinsieg
Hinweis, daß sich die Länder des Nordens das Recht vorbehalten, die Prioritäten für unterstützungswürdige Projekte zu bestimmen. „Die Agenda des GEF ist eine solche des Nordens – Klimawechsel, Ozonschicht, Flüsseverschmutzung“, behauptet Matthew von WWF Indien, „sie sind für uns wenig relevant. Zudem sind es Projekte, die das Wasser beim Rohrauslauf reinigen, anstatt verhindern zu helfen, daß es schmutzig wird.“ Auf die Regierung wirkt weniger die Programmausrichtung des GEF-Fonds ernüchternd als vielmehr dessen schmaler Umfang: 1,3 Milliarden Dollar sind ein verschwindend kleiner Betrag verglichen mit den 125 Milliarden Dollar, die nach Berechnungen des UNCED-Sekretariats jährlich für ein globales Umweltentwicklungsprogramm nötig wären. „Statt daß Rio zusätzliche Mittel freigemacht hätte, beobachten wir eine Schrumpfung sogar bei den konventionellen Entwicklungshilfebudgets“, meint Ashok Khosla, der in Rio als UNCED-Koordinator für die „Non-Government Organisations“ (NGO) verantwortlich war. Gerade unter diesen Organisationen mehren sich nun aber die Stimmen, die das ausbleibende Geld als Chance erblicken, sich auf die eigenen Prioritäten zu konzentrieren: „Es ist Zeit, die Bettelschale wegzulegen“, meint die Zeitschrift Down to Earth, und fährt fort: „Wir müssen endlich aufhören, immer um Hilfe zu betteln. Statt dessen müssen wir selber damit beginnen, unsere knappen Ressourcen effizient zu bewirtschaften. Die Länder des Südens müssen die Disziplin erwerben, mit dem zu leben, was ihnen auch gehört.“
Doch die rhetorische Frontstellung vom reichen Norden und armen Süden hat die Umweltkonferenz nicht lange überlebt. In Indien ist die Solidarität zwischen NGO und Regierung nach Rio rasch zerbröckelt und hat die alten Risse wieder freigelegt. Der Einsatz für ein Umweltdenken, in dem Verfügungsgewalt über gefährdete Ressourcen – zusammen mit der Verantwortung dafür – den direkt betroffenen Bevölkerungen zukommt, hat sich bisher nicht in institutionellen Veränderungen im Land niedergeschlagen. „Den Entmündigung durch die Umweltbürokratie
Kampf gegen die reichen Länder, die ein internationales Umweltmanagement anstreben, haben wir in einigen zentralen Bereichen gewonnen“, sagt Anil Agarwal vom Centre for Science and Environment in Delhi. Doch an die Stelle internationaler Überwachung setzt sich nun der Staat, dessen Gesetzgebung die lokalen Bevölkerungen ebenfalls zu entmündigen droht: „Auch ein nationales Gesetz schafft eine Bürokratie, und ein Experte aus Delhi ist ebenso weit von den Kenntnissen und der Alltagserfahrung eines Assamesen in den Regenwäldern des Nordostens entfernt wie ein Weltbank- Spezialist aus Washington.“
Agarwal glaubt, daß die Umweltressourcen nur durch eine Befähigung (empowerment) der jeweiligen Bevölkerungen langfristig gesichert werden können. In einem Treffen der indischen NGOs im November 1992 wurde daher beschlossen, die Durchsetzung der Regenwald-Prinzipien, welche die Beteiligung der unmittelbar Betroffenen an der Planung von Schutzaktionen vorsehen, gegenüber der eigenen Regierung zur Priorität zu machen. Gleichzeitig anerkennen Leute wie Agarwal und Matthew aber auch den Zwiespalt: auf der einen Seite steht der Staat, der – bestensfalls schwerfällig und im Regelfall korrupt – geltend machen kann, daß Umweltprobleme übergreifende Ursachen haben und damit auch entsprechende Lösungen und Lösungsinstrumente fordern; auf der anderen Seite findet man einen lokalen Dorfrat, der leicht den Lockungen kommerzieller Holzhändler unterliegt, wenn er in eigener Autonomie über Bäume bestimmen kann – und bei der Entscheidung darüber, ob das Dorf durch Aufforstung langfristig Naturkapital regenerieren soll oder durch den Bau von Gebäuden und Straßen kurzfristig Beschäftigung schaffen kann, fällt die Wahl meist gegen die Umwelt aus.
Biodiversität und Designer-Food
Der Erdgipfel von Rio mit seinen Forderungen für zielgerichtetes staatliches Handeln im Bereich der Umwelt fand in einem Augenblick statt, in dem die Fähigkeit und Legitimität des Staates als Garant für Entwicklung weltweit in Frage gestellt sind. Der Bankrott staatlich- sozialistischer Planung geht einher mit einem neuen Glaubensbekenntnis für den Markt. In Indien hat dies zu einer Liberalisierung der Wirtschaftspolitik geführt, die auch die Bereitschaft der Regierung einschließt, die Regeln des freien internationalen Handelns, wie sie etwa in der Uruguay- Runde des Gatt vorgeschlagen werden, grundsätzlich zu akzeptieren. Das bedeutet unter anderem, daß die Rechte privater Firmen zum Erwerb und zur industriellen Verarbeitung biogenetischer Ressourcen ebenso anerkannt werden wie der gewerbliche Schutz ihrer Produkte. Den Schaden tragen Entwicklungsländer. Denn nur die großen Unternehmen der reichen Staaten haben die Potenz, Konsumgüter aus der Retorte zu schaffen. Und sie tun das ausgerechnet im Marktbereich der Nahrungsmittel, der, in den Worten von M.S. Swaminathan, dem früheren Direktor des „Internationale Rice Research Institut“, zu den wenigen Sektoren gehört, in dem die armen Länder des Südens Exportvorteile aufweisen. Kann die Biodiversitätskonvention von Rio helfen? Die meisten indischen Experten teilen Swaminathans Skepsis über deren Fähigkeit, einen Teil des wirtschaftlichen Ertrages in jene Länder zurückfließen zu lassen, aus denen die meisten Ursprungsmaterialien stammen. „Während wir über die Erhaltung der pflanzlichen Erbvielfalt sprechen, fließen Milliarden in die Entwicklung von Designer-Produkten, die – vom Gatt geschützt – die Naturprodukte aus dem Markt drängen werden“, sagt Matthew vom WWFI. „Die Biodiversitätskonvention ist nicht mehr als ein kleiner Nebenschauplatz, der von diesen globalen Kräften überrollt wird.“ Angesichts des wirtschaftlichen Wachstumszwangs sehen sich Länder wie Indien gezwungen, den Schutz des „genetischen Erbes“ zurückzustellen. Und Ashok Khosla, der in Rio ebenfalls eine aktive Rolle gespielt hatte, verbirgt seine Ernüchterung hinter gespieltem Humor: „Manchmal fühlen wir uns wie die Frau, der man sagt: ,Da du ohnehin vergewaltigt wirst, ist es am besten, du genießt es.‘“
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