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■ Auf dem Essener Parteitag beendete Rudolf Scharping kulturell die Ära BrandtGraue-Panther-SPD

Ganz treffsicher ist die SPD mit der Auswahl ihrer Symbole nicht. Björn Engholm erhielt zu seiner Wahl 1991 ein Tau, von dem während seiner kurzen Amtszeit nie ganz klar wurde, ob nun einige daran ziehen oder er sich drin verstricken sollte. Rudolf Scharping erhielt diesmal einen Helm mit Visier, über den sich noch tiefsinniger grübeln läßt: soll er das Visier nun auf- oder zuklappen, Schläge abfangen oder austeilen? Überhaupt: Auf welcher Seite der Barrikade trägt man derzeit Helme?

Wenn schon die nackten Dinge große Rätsel aufgeben, die atmosphärischen Stoffe sind noch viel schwieriger zu deuten. Es hat sich etwas getan auf dem außerordentlichen Parteitag der SPD, dessen wirkliche Bedeutung erst in Umrissen zu erahnen ist. Aber getan hat sich etwas. Es hat ein Kulturbruch stattgefunden. Seit der Ära Brandt gab es eine tragende kulturelle Grundströmung in der Partei, die ihre Ausstrahlung in die Gesellschaft prägte. Willy Brandt folgte ihr mit der Aufbruch-Parole „Mehr Demokratie wagen!“. Jochen Vogel, mit der Unterstützung der Frauen innerhalb der Parteigremien, Björn Engholm mit den Kulturforen und Denkfabriken. Das ist nun vorbei. Wenn sich die Kultur der größten Oppositionspartei ändert, wird sich auch die Republik noch einmal verändern.

Die Partei fängt gerade an, das zu begreifen. Die Rede Rudolf Scharpings hatte – neben bekannten inhaltlichen Positionen – drei klare neue Botschaften: eine innerparteiliche, eine gesellschaftliche und eine generationsbedingte. Alle zusammen ergeben ein sehr eindeutiges kulturelles Signal.

Die innerparteiliche Botschaft

Die Zeit der großen Debatten soll nach dem Willen des neuen Vorsitzenden vorbei sein. Keinem Gegenstand widmete er soviele Redepassagen wie der fast selbstsuggestiven Aufforderung, nun aber keine weiteren streithaltigen Debatten zuzulassen. Hier will er vor allem stilbildend wirken, und so verständlich der Wunsch ist, es steckte darin auch eine leise unterschwellige Drohung. Wer jetzt noch wagt, ein heißes Thema kontrovers zu diskutieren, braucht sehr viel Mut. Er könnte als Störenfried leicht ausgemacht und an den Rand der Partei gedrängt werden – oder drüber hinaus. Die Art und Weise, wie das Podium diese neuen Etikette schon im gemeinsamen Klatschverhalten praktizierte, hatte etwas Unfreies und Vereinnahmendes. Selbst Gerhard Schröder sah sich fast genötigt, dem kollektiven Beifall über die Meinung des Vorsitzenden, daß es ganz und gar unsinnig sei, mit Koalitionsaussagen in einen Wahlkampf zu gehen, mit einem verlegenen Berühren der Handflächen beizuspringen. Wie es allerdings gehen soll, tiefgreifende programmatische Veränderungen in einer vollständig veränderten politischen Landschaft ohne leidenschaftliche Debatten und ein freies Wort zu gestalten, das fragten sich manche besorgt. Undenkbar geworden ist jetzt schon das Protestzelt, das die Jusos beim Parteitag zur Asyldebatte vor den Toren der Partei aufgeschlagen hatten. Wo aber sollen in Zukunft Leidenschaft und Empörung landen, wenn die Angst im Raum steht, sich langfristig damit das Existenzrecht in der Partei zu schmälern? Gerade diese Streitängstlichkeit in den eigenen Reihen ist eine der Grundkrankheiten aller Bonner Parteien.

Das gesellschaftliche Signal

Mehr Demokratie wird nicht mehr gewagt. Der große überraschende Schwung der Mitgliederbefragung verebbte irgendwo in der Mitte der Parteiversammlung. Seine Kraft ist schon gebrochen: es wird einen Satzungsbestandteil geben, das wär's dann gewesen. Rudolf Scharping liebt Führung und fürchtet Unberechenbares. Das Motiv ist biographisch. Vielleicht waren die stärksten Passagen der Rede die, in denen er von der Notwendigkeit sprach, das Vertrauen der einfachen Menschen in die große, alte Partei der Benachteiligten wiederzugewinnen. Da schlägt sein Herz, da fühlt er sich verpflichtet – um nicht zu sagen: da ist er zu Hause. Da ähnelt er auch dem anderen Pfälzer, Helmut Kohl, at it's best verstanden. Auch Rudolf Scharping bezieht sein Selbstvertrauen aus diesem Instinkt für die Sorgen, Nöte und das Alltagsleben der kleinen Leute. Daß ihm das keinen Beifall in Frankfurt und Berlin, bei den Künstlern und Intellektuellen einträgt, was soll's? Er sucht sie nicht, und er braucht sie nicht. Er sucht und braucht auch nicht die Verknüpfung mit den freiheitlichen, libertären, emanzipatorischen Traditionen innerhalb der SPD. Willy Brandt kennt er da nur im deutschnationalen Goldrahmen seiner späten Gattin. Wie bar jeder Anfechtung und jeden Zweifels er für den großen Lauschangriff eintritt, wie er ihn auf das einfache Problem reduziert, zwischen einem (ehelichen) Schlafzimmer und einem Bordell zu unterscheiden – das hat nicht nur etwas Populistisches. Soviel Freiheit nimmt der Mann sich nicht, daß er ihre Einschränkung ernstlich befürchten müßte. Wie sollte er da die Schatten fürchten, die der Schlaf der Sehnsucht nach einem Mehr von diesen köstlichen Freiheiten hervorbringt? Nein, dem Reich der Freiheit neue BürgerInnen zu werben, das ist seine Sache wohl nicht. Es reicht ihm, dafür zu sorgen, daß die Menschen sich sicher fühlen. Der Rest ist Luxus.

Endlich geschafft – Die Alten kommen wieder!

Manchmal kam man sich auf diesem Parteitag vor, wie in einem alten deutschen Spielfilm. Da saßen sie alle in der ersten Reihe: Helmut Schmidt, Annemarie Renger, Karl Schiller, Greta Wehner. Auch Engholm, der sympathischerweise keine rechte Lust hatte, wurde herbeizitiert. Egon Bahr drückte sich zur Seite mit einem Gesicht, das keiner enträtseln wird. In dieser Kulisse war das Auftreten von Helmut Schmidt ein ganzes politisches Programm. Schon in Scharpings Rede waren die Bezüge auf die 68er und ihre elitären Lebensgewohnheiten in der Tonart scharf und nicht frei von Ranküne. Bei Helmut Schmidt folgte die rituelle Austreibung. Geschafft! Von wegen: Versöhnung! Die Riege der Grauen Panther steht und ist bereit, Verantwortung zu übernehmen. Sie hat jetzt auch einen Jungen gewonnen, der ihnen endlich mal gefällt. Wird der sich noch einmal aus dieser Umarmung lösen können? Und wie könnte er dies ohne einen wirklichen Schritt auf die 68er zu, den er gar nicht für nötig hält?

Das Projekt „kulturelle Restauration“ gipfelte in dem apotheotischen Vorschlag, Johannes Rau zum Bundespräsidenten zu machen. Klare Vorgabe – klares Ziel: Helmut Kohl bleibt Kanzler, Rudolf Scharping wird Oppositionsführer und/oder Vizekanzler, Johannes Rau wird Bundespräsident, die Chefs der Zeit machen diesmal für alle zusammen Wahlkampf.

Deutschland wird ein geordnetes, auf der obersten Etage total verwöhntes Land. Nur darunter brodelt es, und manche kriegen einen Erstickungsanfall. Antje Vollmer

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