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■ Sperrstunde: Die wahre UrsacheZeitgeist-Schuldige!

Berlin ist noch nicht einmal eine richtige Hauptstadt, da wird es schon zur Provinz. Man kommt aus dem Kino oder dem Theater und will noch ein Bierchen in einem Gartenlokal trinken. Vielleicht gar eine ganze Flasche Wein mit ein paar Freunden leeren, bis daß die Sterne am Himmel kreisen. Doch bevor man Platz genommen hat, winkt der Wirt ab und weist auf das nagelneue Schild „Sperrstunde ab 22 Uhr“. Vielleicht gelingt es noch, ein paar Getränke herauszuschinden. Wer jetzt trinken will, muß schnell sein. Aber das macht eh nichts, denn nachts wird Berlin immer unerträglicher, ein paar Promille können da nicht schaden. Woran sollte man sich denn auch erfreuen? Die Plastik-Meile Ku'damm ist für Nachtschwärmer so wenig attraktiv wie die Ödnis Unter den Linden.

Nein, wer in Berlin lebt, dem bleibt nur die Erholung in und vor den Kneipen. Doch wer sind die wahren Schuldigen, die uns gerade im Sommer die schleichende Provinzialisierung der Trinkkultur auf Bürgersteigen und Plätzen bescheren? Natürlich, da können wir eilfertig auf die engstirnigen Bürokraten in den Wirtschaftsämtern der Bezirke verweisen, die in vorauseilendem Gehorsam immer häufiger für die Bewirtung unter freiem Himmel die 22-Uhr-Marke ansetzen. Aber seien wir doch selbstkritisch, wagen wir den Blick auf die eigene Klientel! Denn bei der weiteren Ursachenforschung für Berlins Kneipenniedergang stoßen wir zwangsläufig auf eine Gruppe, die dem Zeitgeist zufolge für vieles haften muß: die 68er! Hatte nicht auch Helmut Kohl jüngst klar gemacht, daß gerade ihre überlasche Erziehung unsere Nachkommen zu wütenden Rambos macht? Sind es nicht auch sie, die Gescheiterten, die uns Jüngeren den Hedonismus im Straßencafé madig machen wollen? Damals, in glücklicheren Tagen, soffen sie sich in dunklen Höhlen die Hucke voll und hielten am linken Stammtisch die rote Fahne in den Wind. Heute sitzen sie in Charlottenburg, Schöneberg und Kreuzberg und gleichen immer mehr ihren Eltern. Die wollten letztlich auch nur immer eins: ihre Ruhe haben. Und zwingen uns nun ihre Idylle auf, mit Tempo-30-Zonen und ökologischer Nachtruhe. Uns bleibt da nur der Blick in die Hochglanzbroschüren, von Merian bis Geo. Da steht es schwarz auf bunt: Berlin ist eine Metropole. Bis 22 Uhr. Prost! Severin Weiland (Jahrgang '63)

Siehe Bericht Seite 28

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