: Ein Fäulnisgeruch über dem Lande
■ „Ich bin der Text“: Der Worpsweder Dichter Kurt Drawert gehört zu den heurigen Bachmann-Preisträgern
„Substanzdreck, Landesdreck, Erinnerungsdreck, Gegenwartsdreck“. Ein Erzähler, ein Ich, sieht sich umgeben von einer Substanz, die alles verdreckt, die Oberfläche und das Gewebe der Dinge. Ein Ich spricht gegen den Schmutz, faulende Fenster, die Ausdünstungen der Stadt. Ein Erzähler beschreibt die Stadt als „Metastasen-Organismus“,als „Ineinander-Verschachtelung grauenhafter Gegenden“, wo der Fluß nur noch ein fließfähiger Fäkalienbrei ist.
Der Ort mit seinen „hoch-toxischen Geruchskulturen“ ist ein Ort in der ehemaligen DDR, sein Autor, der 1956 bei Leipzig geborene Kurt Drawert hat mit dem Text „Haus ohne Menschen“ den 17. Ingeborg Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt gewonnen. Die elf Juroren zeigten sich schon nach der Lesung in ihrer Bewertungsrunde so beeindruckt von der düsteren Klage, daß der Preis nicht überraschend kam.
Kurt Drawert hatte seinen Text stotternd, zögernd, fast weinend vorgetragen. „Ich bin der Text“, sagt er im Nachgespräch einem Reporter. Seine Prosa wurde mit Peter Weiß und Thomas Bernhard verglichen. Radikale Einsicht und sprachliche Originalität lobte der emeritierte Yale-Professor und langjährige Juror Peter Demetz enthusiastisch.
Sogar das enfant terrible der Runde, der Hamburger Schriftsteller Maxim Biller, gestand, ergriffen zu sein. Es sei ein Text über den Kleinbürger, der zum Skinhead oder Gauführer werden könne, der eine Zeitbombe in sich trage. Die „Beschwörung eines schwarzen Finales“ sah Wilfried Schoeller, Kulturleiter beim Hessischen Rundfunk, in Kurt Drawerts Prosa: „Der einzig wirklich radikale Text des Wettbewerbs“.
Meine Gefühle vor dem Fernseher, während Kurt Drawert las, waren gemischt: Ich fand ihn unerträglich wehleidig, ich ärgerte mich über die Pose des klagenden Poeten, das Pennäler-Geraune. War das die Abneigung gegen eine tiefe deutsche Innerlichkeit, die ums monadische Ich kreist und Wirklichkeit nur als Metapher, als allumfassender Dreck, Schmutz, Staub zuläßt, oder ist es die Angst vor dem großen literarischen Atem, der mir die Sprache verschlägt?
In den Tagen nach Kurt Drawerts Auftritt war es ausgerechnet seine Fäulnis-Litanei, seine Klage über ein grauenhaftes Leipzig, die mir im Kopf geblieben war, und Drawerts Auskunft im Interview, er wolle mit seiner Literatur Hoffnungslosigkeit erzeugen, damit die Menschen für das Tägliche frei werden statt sich an Utopien zu klammern, ist mir so sympathisch, daß ich das Urteil der Jury erleichtert zur Kenntnis nahm.
Und die Flügel der Ironie? Ich vermisse sie. Aber vielleicht ist sie zwischen den vielen Worten, die alle um das eine, den Substanzdreck kreisen, gut versteckt und bringt die Sache langsam ins Schwingen. Hans Happel
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