SO 36 wird Geschichte

Jeder Kreuzberger kämpft auf seine Weise gegen die Veränderungen im Stadtteil  ■ Von Miriam Hoffmeyer

Das Kürzel SO 36 mit all seinem alten Flair von Aufbruch, von Experiment ist seit gestern endgültig Domäne der Nostalgiker geworden. Erbarmunglos schritt die Geschichte in Gestalt des Post-Maskottchens Rolf über die Nacken einiger Aufrührer hinweg, die im April mit Kerzen in der Hand für eine Ausnahmeregelung im Zustellbezirk 36 demonstriert hatten. Bei einem T-Shirt-Laden am Heinrichplatz waren schon vor einer Woche Protest-Shirts, die die neuen Zahlen inmitten eines Verbotsschilds zeigten, ausverkauft – alles vergebens.

Auf den ersten Blick hat sich seit dem Mauerfall in Kreuzberg nicht viel verändert. Immer noch dominieren kleine Läden das Straßenbild, immer noch begegnet man der bunten Mischung aus türkischen Familien, Langzeitstudenten und Alt-Spontis. Die Bevölkerungsstruktur des ehemaligen „Einstiegsbezirks“, dessen Einwohnerschaft sich alle paar Jahre komplett austauschte, ist nach einer Studie der Gesellschaft für Stadterneuerung S.T.E.R.N. heute stabiler denn je. Paradoxerweise ist gerade diese Stabilität ein Resultat der Wende, die die Grundstücksspekulation in dem neuen Innenstadtbezirk anheizte: Niemand mag mehr umziehen.

Denn während die Mieten in schon bestehenden Verträgen bis 1994 jährlich nur um fünf Prozent steigen dürfen, können neue Verträge frei ausgehandelt werden. Sie liegen in Kreuzberg im Durchschnitt um mehr als 50 Prozent über dem Mietspiegel. Ein lukratives Geschäft für die Vermieter sind auch Modernisierungen, nach denen elf Prozent der Baukosten auf die Miete umgelegt werden dürfen. Manche Bewohner wehren sich, indem sie Steckbriefe ihrer Vermieter an die Häusermauern heften.

Sie klammern sich nicht nur an ihre Wohnungen, sondern auch an die ruhmreiche Vergangenheit von SO 36. „Die Leute, die hier leben, wollen den Mythos behalten. Trotzdem wissen sie,daß alles ganz schnell vorbei sein kann. In zehn Jahren wird nichts mehr an SO 36 erinnern“, meint Jürgen, der in der Szenekneipe „Paradox“ in der Reichenberger Straße kellnert. In den letzten Jahren hat er viele Veränderungen beobachtet: „Wir haben immer mehr Stammgäste, dafür kommen kaum noch Wochenendschwaben und Erlebnistouristen.“ Wo die sich jetzt wohl besaufen? „Vermutlich im Osten.“ Auch junge Neuberliner zieht es heute ins Scheunenviertel und nach Prenzlau: Die Kreuzberger Szene ist merklich gealtert.

Unangenehmer findet Jürgen eine andere Veränderung: Binnen kurzer Zeit hat sich die Miete für das „Paradox“ mehr als verdreifacht. Weil es keine Preisbindung für Gewerbemieten gibt, müssen immer mehr kleine Läden wegen zu hoher Mietforderungen aufgeben. Ein Feinkostladen in der Waldemarstraße muß beispielsweise jetzt schließen, weil die Miete auf einen Schlag von 700 auf 4.000 Mark erhöht wurde. Nach einer am Dienstag vorgestellten Studie des Vereins SO 36 über das Gewerbe im Stadtteil gibt es heute insgesamt 31 Einzelhandelsläden weniger als vor vier Jahren, obendrein wechseln die Eigentümer häufig.

Daß sich die Struktur des Gewerbes dennoch noch nicht dramatisch verändert hat, liegt am Durchhaltewillen der Gewerbetreibenden, die die Forderungen zu erfüllen versuchen, solange es eben geht. Ein Beispiel ist der 32jährige Ahmet, der seit dreizehn Jahren zusammen mit seiner Familie einen Gemüseladen in der Wrangelstraße betreibt. Von einem Tag auf den anderen stieg die Miete von sieben auf 23 Mark pro Quadratmeter. Ahmed und seine Familie arbeiten jetzt doppelt soviel wie früher, und das Gemüse im Laden ist teurer geworden.

Einem solchen „Zitronenpreß- Effekt“, meint Rainer Sauter, seien gerade die türkischen Händler wehrlos ausgeliefert: „Die Vermieter wissen genau, daß die nirgendwo anders hinkönnen.“ Die Türken in Kreuzberg – sie stellen fast ein Fünftel der 156.000 Einwohner – sind nicht von ungefähr die stabilste Bevölkerungsgruppe. Sie leben meist in Großfamilien aus drei oder vier Generationen in viel zu engen Wohnungen und mußten in den letzten Jahren noch enger zusammenrücken, denn 4.000 Familienangehörige sind nachgezogen, ohne daß neuer Wohnraum geschaffen wurde. Dennoch können die Türken Kreuzberg nicht verlassen: In Ostberlin scheuen sie die Ausländerfeindlichkeit, und auch in den westlichen Bezirken wird ihnen die Wohnungssuche schwer gemacht.

Das Zusammenleben zwischen Deutschen und Türken in Kreuzberg ist traditionsgemäß friedlich, und noch immer wird der Bezirk von Skinheads weiträumig umfahren. Die Zukunft sieht Mustafa Turgut Cakmakoglu, der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde, dagegen skeptisch: „Noch gibt es keine Konflikte, aber die Ausländerfeindlichkeit im restlichen Berlin wird auf Kreuzberg abfärben.“

Zukunftsangst haben auch die vielen kreuzberg-typischen sozialen Projekte. Die meisten logieren in Ladenräumen und sind deshalb auch vom Steigen der Gewerbemieten betroffen. Zwar mußte noch kein einziges Projekt definitiv schließen, doch werden oft nur Provisorien errichtet. So unterhält der Kinderladen NKK zum Bespiel eine Notbetreuung für eine Kindergruppe, der in der Dresdener Straße gekündigt wurde. Andere Kinderläden bringen die höheren Mieten auf, indem sie die Elternbeiträge verdoppeln.

Viele Projekte leiden außerdem an der Finanzknappheit des Senats: ABM-Stellen werden nicht mehr bewilligt, und Neugründungen von Kinderläden sind seit 1991 nicht mehr möglich, weil sie nicht mehr gefördert werden dürfen. „Das sind alles nur einzelne Dinge, aber es ist trotzdem an der Grenze des Erträglichen“, sagt Hildegard Hofmann vom Verband von Kinder- und Jugendprojekten in Kreuzberg SO 36. „Wir führen nur noch Abwehrkämpfe, an Neues wie interkulturelle Projekte ist überhaupt nicht mehr zu denken.“

Das Schreckgespenst der „Yuppisierung“ des Bezirks beschwören die Kreuzberger seit Jahren. Dabei gibt es zwar mehr Computerläden oder Videotheken (die sich die Mieten leisten können), doch ist Kreuzberg mit Schickeria-Bedarf nach wie vor völlig unterversorgt. Es gibt nur wenige Boutiquen, allerdings immerhin 17 Restaurants für den gehobenen Bedarf – die von den Autonomen als Yuppie- Brutstätten attackiert werden. Das „Kübelattentat“ auf das „Exil“ am Paul-Lincke-Ufer, bei dem im Oktober 1992 Gäste mit Dreck übergossen wurden, ist der Besitzerin Ursula Tahere trotzdem rätselhaft: „Hier kommen Kreuzberger her und keine Grunewald-Yuppies. Es gibt immer noch große Unterschiede zwischen den Vierteln.“

In keinem Bereich ist der Wandel dramatisch – aber er ist unverkennbar. Mit den Gewerbemieten steigen die Preise, immer mehr Mieter in modernisierten Häusern und in Fabriketagen müssen gehen. Eine Preisbindung für Gewerbemieten hält die Kreuzberger Baustadträtin Erika Romberg (Grüne/AL) für den besten Weg zur Erhaltung der Struktur. Sie ist jedoch nur als Bundesgesetz zu verwirklichen. So muß die Baustadträtin permanent Verhandlungen mit einzelnen Vermietern führen – und kann immer wieder einzelne Erfolge verbuchen.

Die Zeit der Experimente ist für Kreuzberg vorbei. Für die älter gewordenen Bewohner geht es jetzt nur noch darum, in auf verschiedenartige Weise, aber immer zäh geführten Abwehrkämpfen das Erreichte zu bewahren. Kreuzberg ist notgedrungen konservativ geworden.