: Schneller leben statt grübeln
■ Begabte Newcomer: Das Reality-Kabarett der Blaubühne im ZoscH
„Die Tage gehen auch so vorbei, und die Nächte werden nicht heller, statt Depressionen und Grübelei, leb' ich einfach schneller.“ Dieses Rezept verschreiben zwei neu praktizierende Ärzte auf der Kellerbühne des ZoscH in Mitte. Die Probleme der Patienten, des Publikums also, werden durch die „kabarettistische Gruppentherapie“, wie das Kabarett-Duo Blaubühne ihr Programm untertitelt, nicht gelöst. Sie werden ihnen auf geistreich-witzige und zynische Weise binnen zweieinhalb Stunden ausgeredet. Veronika Füchtner und Sascha Lehnartz spielen überzeugend die Psychopathen des Alltags, die jeder wiedererkennt, nicht zuletzt wegen der treffenden Kostümierung. Da klagt der sonnenbebrillte Kreuzberger Neo-Exisstentialist, daß er die väterlichen Ideale seine „68er-Alten“ im zunehmend verbonzten Umfeld für völlig erdfern hält. „Das Niveau ist hoch und keiner ist drauf“, mault die Feuilleton-Redakteurin einer „anerkannt langweiligen Tageszeitung“. In der Sinnkrise der Postmoderne weiß sie weder, was sie ist, noch ist sie, was sie weiß. Vom anything goes zum rien ne va plus ist es eben nur ein Schritt.
Die Wandlungsfähigkeit von Veronika Füchtner ist verblüffend. Von der mannesgenervten Katinka Poppenstein mutiert sie zum hiphopenden Monsterkind, das rhythmisch zum Beat erzählt, wie es die Freundin massakrierte. Aber auch Erfolge werden vorgeführt: Horst Bockenfeld, in Rostock durch geiferndes Applaudieren noch unangenehm aufgefallen, wandelte sich durch eingehende Therapie vom Ausländerfeind zum Asylantenfreund. Er begrüßt und betreut für die „Clearaysl GmbH“ an der Oder-Grenze frischeingeschwommene Flüchtlinge“.
Die Blaubühne schreckt vor nichts zurück. Scharfzüngig und pointensicher zeigen die beiden Newcomer professionelles Typenkabarett. Glücklicherweise verzichten sie auf weltverbessernde Betroffenheitssatire: „Wer bremst verliert, wer innehält wird plattgemacht, und erst recht wird kahlrasiert, wer an der falschen Stelle lacht.“ In ihren stärksten Auftritten kommen die beiden Mittzwanziger Altmeistern wie Kohnejung und Schrot qualitativ bereits bedrohlich nahe. Im zweiten, „besinnlichen Teil des Abends“ liegt ein Hauch Joseph Hader in der Kellerluft des ZoscH, was größtenteils den stimmungsvollen Kompositionen des amerikanischen Pianisten Dominic Sargent zu verdanken ist. Er vertonte auch Füchtners Menstruations-Blues „Die Ausnahme von der Regel“, der mit Lehnartz nachdenklich stimmenden Monolog über die „Kunst sich gelassen zu verlassen zu lassen“ den Höhepunkt des Streifzuges durch das zwischenmenschliche Beziehungschaos unserer Zeit bildet.
Diese Therapeuten werden gewiß noch öfter behandeln, schöner als Zähneziehen ist ihr Programm allemal. Wulf Schmiese
Blaubühne: „Schneller leben – Reality-Kabarett“ im ZoscH, Tucholskystraße 30 in Mitte, ist Montag bis Mittwoch ab 21 Uhr bis zum 14. Juli zu sehen.
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