„Aber sonst geht's uns gut“

Begegnung mit vier Kindern in der Metro: Fernsehen macht Spaß, und Englisch ist toll, aber für den Förderkurs haben die Eltern kein Geld  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Moskaus Metro zur Rush-hour gegen fünf: Nach der Anfangsstation am Stadtrand kann man in Richtung Zentrum noch atmen, auch wenn alle Sitzplätze schon besetzt sind. „Hier hat einer neulich wieder diese Metro-Ratten gesehen – so groß wie Schäferhunde!“ zirpt ein wichtiges Stimmchen. Und als ich mich umdrehe: „Haben Sie keine Kaugummis?“ Da stehen zwei größere Jungen und zwei kleinere Mädchen, wie die Orgelpfeifen. Alles Geschwister, stellt sich heraus: Anton und Ruslan, zwölf und elf, sommersprossig und schlaksig wie Tom Sawyer und Huckelberry Finn. Dann die neunjährige Olja, die eben mit den Ratten geprotzt hat, ein Pippi-Langstrumpf-Typ. Und schließlich die sechsjährige Ljusja, kugelig und lockig. Alle haben an diesem kühlen Sommerabend nur ärmellose T-Shirts und Shorts an. „Habt ihr denn nichts Wärmeres mit?“ – „Wir waren den ganzen Tag am Rubljower Stausee schwimmen – da mummelt man sich doch nicht ein!“ weicht Anton aus. „Hattet ihr euch denn was zu Mittag mitgenommen?“ – „Wir haben doch gut gefrühstückt“, kontert er. Was es aber genau zum Frühstück gab, daran können sich die vier nicht mehr erinnern. „Und was wird's zum Abendbrot geben?“ Olja hebt eine abgewetzte Einkaufstasche vom Boden und zeigt etwa zwei Kilo Kirschen. Sie verbreiten den Duft der verbotenen Frucht. „Nicht, was Sie denken“, beeilt sich Ruslan: „Wir haben im Obst- Geschäft an der Metro-Station ein paar Kisten geschleppt, da haben sie uns die Kirschen geschenkt.“

Die Eltern der Orgelpfeifen gehören nicht zur neuen Creme der russischen Gesellschaft. Der Vater ist Hausmeister, die Mutter geht putzen. „Manchmal waschen wir schon Autos an den Ampeln“, brüstet sich Anton: „Aber nur nach Verabredung, wir müssen uns nämlich von den Großen beschützen lassen und dafür tausend Rubel am Tag Steuern zahlen.“ – „Was heißt denn beschützen?“ – „Jetzt haben wir welche, die uns vor anderen beschützen, die uns auch beschützen wollen“, erklärt er: „Früher beschützten uns immer wieder neue Leute, und manchmal mußten wir dreimal am Tag Steuern bezahlen, damit ist jetzt Schluß.“ „Da kommt Ihr ja gar nicht zum Lernen?“ „Wieso?“ entrüstet sich Anton: „Wir arbeiten doch nicht von früh bis spät, sondern nur ein paar Stunden am Tag.“ – „Und was macht euch Spaß?“ – „Fernsehen: das Sandmännchen!“ kräht Ljusja – „Ich sehe am liebsten den Obersten Sowjet“, erklärt Ruslan überraschend. „Wieso denn das?“ – „Wegen Ruslan Chasbulatow. Nicht nur, weil er so heißt wie ich: Er ist wie aus einem Trickfilm, wie er so komisch rumspringt und krächzt. Für mich könnte er noch viele Jahre „Speaker“ bleiben!“

„Früher habe ich gern fotografiert. Im Palast der Pioniere“, erinnert sich Anton: „Da gab es Kameras und ein Labor. Auch auf der Ziehharmonika konnte man dort üben. Alles umsonst! Jetzt haben sie den Palast in unserem Bezirk dichtgemacht. „Ich finde Englisch toll“, überlegt Ruslan: „Ich würd's gerne lernen. Ist ja für einen Unternehmer ein Muß. Na ja, vielleicht später. Jetzt haben unsere Eltern kein Geld für den Förderkurs in der Schule. Aber sonst geht's uns gut. Wir sind zu Hause acht Kinder. Ist ja klar, daß alle ein bißchen mitverdienen müssen!“ An der nächsten Haltestelle steigen die Orgelpfeifen um. Sie gehören nicht zu den schätzungsweise zehn- bis zwanzigtausend Moskauer Straßen- und Bahnhofskindern, zu den Waisen der neuen sozialen Revolution, für die die einschlägigen Häuser schon längst nicht mehr genug Nahrung bieten. Für solche ist „Arbeit“ schon längst keine nennenswerte Alternative mehr. Die hier sind zusammen, arbeiten und sind noch nicht einmal aggressiv gegen uns, die wir unseren Kindern sogar einen Englischkurs bezahlen könnten, wenn wir wollten.