■ Kurzer Rückblick von Bad Kleinen aus auf das Jahr 1977: Noch eine Vergangenheit, die partout nicht vergehen will
Die Rede vom deutschen Herbst 1977 beschwört Bilder einer fast lückenlosen inneren Mobilmachung, einer gleichgeschalteten politischen Klasse, hysterischer Massenstimmungen und eines allgegenwärtigen Polizeiapparats. Es war dieser Hintergrund, vor dem die Polizei„exzesse“ der damaligen Zeit spielten: zum Beispiel ein zu Tode beförderter, unschuldiger Taxifahrer, ein durch die verschlossene Wohnungstür erschossener ausländischer Besucher, eine polizeilich hingerichtete, der Zugehörigkeit zur RAF verdächtige junge Frau, die keinerlei Gegenwehr geleistet hatte. Sie waren Opfer der innerstaatlichen Feinderklärung, mit der der Staatsapparat auf den Terrorismus der RAF reagierte.
Seit jener Zeit, in der man die Hände hochhob und auf seine Brusttasche deutete, wenn einem der Personalausweis abverlangt wurde, sind nahezu fünfzehn Jahre vergangen. Die Sozialdemokratie, damals noch an der Regierung, begann sich vorsichtig von einigen ihrer Beiträge zur Festigung des Rechtsstaats zu distanzieren. Theoretiker wie Ulli K. Preuß stellten später der Linken die Aufgabe, das Gewaltmonopol des Staates gleichzeitig einzugrenzen und zu zivilisieren. Die RAF gab eine Erklärung ab, sich künftig der Basisarbeit widmen zu wollen. Seit Rostock, Mölln und Solingen wird sogar bis weit in die Reihen linker „Staatsfeinde“ die Frage ventiliert, ob angesichts des rassistischen Terrors nicht die Überprüfung einiger liebgewonnener Glaubenssätze in Sachen Staatsapparat fällig ist.
Und jetzt: ein gezielter Todesschuß in Bad Kleinen, abgegeben auf einen kampfunfähig am Boden Liegenden? Keine Leidenschaften waren vorher aufgeputscht, keine Bürgerkriegssituation war simuliert worden. Die Staffage des Jahres 1977 fehlte vollkommen, aber das Ergebnis ist das gleiche. Angehörige von Spezialeinheiten, deren Job, ja deren beruflicher Ethos im sach- und rechtsstaatsgerechten Gebrauch ihrer Waffen zu bestehen hat, sind unter Verdacht, einen Mord begangen zu haben. Aus Rache, mithin aus niedrigen Beweggründen. Der Generalbundesanwalt aber verhängt eine Nachrichtensperre, um vier Tage später erklären zu lassen: „Niemand hat ein größeres Interesse an der Aufklärung der Vorgänge in Bad Kleinen als wir.“ Da man unterstellen muß, daß von Stahl bereits am Sonntag wenigstens in Grundzügen von dem wirklichen Tathergang informiert war, wird er den Vorwurf, daß Spuren nicht gesichert sondern verwischt werden sollten, kaum entkräften können.
Wir treffen hier auf die verderbliche Erbschaft des juristischen Korpsgeistes, jener Tradition, die „Vorgänge“, in die Polizeikräfte verwickelt waren, um jeden Preis von der Öffentlichkeit abschirmen will. Eine Tradition, nach der seit den Tagen Weimars noch das klarste Tötungsdelikt, sollte es denn zum Verfahren kommen, mit der Annahme der Putativnotwehr entschuldigt wird. Wo der Polizist sich gemäß dem Gesetz verhält, als ob er den Rechtsstaat unwiderruflich internalisiert hätte. „Ich kann mir nicht vorstellen“, erklärte der Sprecher der Staatsanwaltschaft Schwerin, „daß ein Beamter so vollständig durchgedreht ist. Schließlich handelt es sich bei den Spezialeinheiten um ausgesuchte Leute.“ Offensichtlich ist die Bereitschaft, einen bereits Wehrlosen zu töten, durch Trainingsprogramme legalen Waffeneinsatzes und durch Unterweisung in Staatsbürgerkunde nicht so einfach zu beseitigen. Offensichtlich werden die atavistischen Gefühle von Haß und Rache aus etwas verzweigteren Quellen gespeist, als sich die effizienzversessenen Erfinder der diversen Einsatzkommandos in den siebziger Jahren träumen ließen.
Die politische Konstellation um und nach der Verhaftungsaktion von Bad Kleinen ist von vollendeter Absurdität. Die RAF hat deutliche Beweise ihres Willens abgegeben, zu deeskalieren, die staatlichen Behörden verfolgen stur und unbelehrbar ihre Maximallinie, die Strategie der bedingungslosen Kapitulation. So als ob die politischen Verhältnisse zu Ende der siebziger Jahre versteinert wären; als ob nicht alle Energien, auch die polizeilichen, darauf gerichtet werden müßten, dem rassistischen Terror von heute das Handwerk zu legen. Die RAF würde allzu gerne ihrer Bandenmentalität loswerden, sich in die Reste der legalen, linksradikalen Szene integrieren. In den polizeilichen Spezialeinheiten hingegen blüht diese Mentalität weiter, dort scheint die Blutrache zu überleben, die tödliche Fixierung auf den Feind der siebziger Jahre. Auge um Auge, Zahn um Zahn.
„Man weiß nicht, was der Generalbundesanwalt weiß“, leitartikelt die FAZ vom 7.6., „und das ist gut so.“ Präziser kann die fatale, in die Sackgasse führende Linie der Strafverfolgung nicht ausgedrückt werden. Das großmannssüchtige Ideal der Strategen, der Männer in den Krisenstäben, die nichts nach außen lassen und, von der historischen Stunde sichtlich ergriffen, schicksalsschwere Entscheidungen treffen, hat die siebziger Jahre überlebt. Jetzt rächt es sich, daß ein Dialog aller beteiligten Akteure über den „deutschen Herbst“ bis heute unmöglich war. Eine Verständigung darüber, daß nicht nur die radikale Linke leichtfertig die zivilisatorische Substanz des „bürgerlichen Staates“ aufs Spiel setzte, sondern ebenso die herrschenden Parteien. Wo keine Selbstkritik, da keine praktischen Konsequenzen. Der Triumphalismus der Linken ist längst zerstoben. Aber die Männer des Apparats von Helmut Schmidt bis zu den Funktionären der von ihm hochgepäppelten Verfolgungsapparate sind von Selbstkritik gänzlich unangekränkelt. Ihre technokratisch-zentralistische Grundausrichtung ins Milieu der Kohlschen Herrschaft hinüberzuretten war ja auch kein großes Kunststück. Die Forderung, von Stahl zu feuern (in den vorläufigen Ruhestand zu versetzen), ist deshalb keineswegs eine bloß formale Geste. In ihr könnte sich der Anspruch geltend machen, die Frage, wer wen mit welchen Mitteln zu bekämpfen hat, endlich in die Arena zurückzuverweisen, in die sie gehört: die der vernunftgeleiteten, demokratischen Diskussion. Christian Semler
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