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■ Eine kleine, aus „recherchetaktischen Erwägungen“ zwangsläufig unvollständige Chronik der Berichterstattung des Generalbundesanwaltes zu Bad Kleinen
Am Sonntag, den 27.6., feiert Generalbundesanwalt Alexander von Stahl einen großen Erfolg: Am frühen Abend läßt er die Verhaftung der beiden mutmaßlichen RAF-Mitglieder Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld auf dem Bahnhof von Bad Kleinen vermelden. Das große Ereignis, teilt von Stahl am Abend mit, werde leider durch den Tod eines GSG-9-Beamten und den Tod Grams überschattet. Grams und Hogefeld hätten sich in der Bahnhofsgaststätte getroffen. Als die beiden das Lokal verlassen hätten und festgenommen werden sollten, sei es zum Schußwechsel gekommen. Von Stahl berichtet, Birgit Hogefeld habe das Feuer eröffnet.
Am Montag teilt die Bundesanwaltschaft mit, der bei der Festnahmeaktion getötete Grams habe den GSG-9-Beamten erschossen. Eine detailierte Schilderung des Polizeieinsatzes unterbleibt. Von Stahl verhängt eine Nachrichtensperre mit der Begründung, neue Fahndungsansätze seien zur Anwendung gekommen. Deren Preisgabe würde die weiteren Ermittlungen gefährden. Erste Korrekturen muß der Bundesanwalt in der Beschreibung des genauen Tatortes anbringen. Journalisten berichten, das die von Stahl benannte Gaststätte Sonntags geschlossen hat. Der Treffpunkt von Hogefeld und Grams wird anschließend in eine andere Gaststätte zwischen den Gleisanlagen verlegt. Zeugen berichten weiter, Grams und Hogefeld hätten sich in der Kneipe mit einer „dritten Person“ getroffen. Die Bundesanwaltschaft verweigert dazu jede Stellungnahme.
Am Dienstag die nächste Korrektur: Hogefeld wurde bei dem Einsatz überwältigt, konnte gar nicht schießen. Die Bild-Zeitung verkündet, der „dritte Mann“ sei ein V-Mann der Polizei gewesen.
Am Mittwoch zeichnet sich immer deutlicher das katastrophale Ausmaß des Polizeieinsatzes ab. Alexander von Stahl spricht dennoch vom „größten Fahndungserfolg“ nach Mitgliedern der Roten Armee Fraktion seit sieben Jahren. Diese Aussage garniert er mit der Meldung, der getötete GSG-9- Beamte sei von einem Dum-Dum- Geschoß und Grams von einer Polizeikugel getroffen worden.
Am Donnerstag präsentiert das TV-Magazin „Monitor“ eine Augenzeugin, die gesehen hat, wie Grams von einem Polizisten aus allernächster Nähe per Kopfschuß getötet wurde. Auch die Staatsanwaltschaft in Schwerin bestätigt nach der ersten Obduktion, daß Schmauchspuren an der Leiche auf einen „absoluten Nahschuß“ hindeuten. Die Staatsanwälte favorisieren aber die Version, daß sich Grams selber erschossen haben könnte. Das Bundesinnenministerium stellt entschieden fest, keiner der eingesetzten GSG-9-Beamten hat einen solchen Schuß aus nächster Nähe abgegeben. Wie die Augenzeugin weiter erklärt, hat sie ihre Aussage über den Nahschuß auf Grams bereits am Sonntag abend in Bad Kleinen einem BKA-Beamten zu Protokoll gegeben. Über diese Aussage war in den Tagen danach nichts bekannt geworden. Im Innenausschuß des Bundestages führt die von der SPD vorgetragene Forderung nach einem Rücktritt von Stahls zu hitzigen Auseinandersetzungen – Union und FDP stützen ihn.
Am Freitag führen die Ungereimtheiten zu einer Sondersitzung des Innen- und Rechtsausschusses des Bundestags. In deren Verlauf benennt Innenminister Seiters den Präsidenten des Bundesverwaltungsamtes, Christoph Grüning, als einen „neutralen, unabhängigen“ Gutachter zur Aufklärung der bisherigen Widersprüche. Mit Grüning wird ein Sachverständiger bestellt, der nach Informationen der Frankfurter Rundschau zuvor über zwei Jahrzehnte als Abteilungsleiter und Personalchef im Bundesamt für Verfassungsschutz tätig war.
„Wir haben von der GSG 9 keinen Verlaufsbericht“
Abgeordnete der SPD werfen von Stahl wiederholt mangelhafte und unzureichende Unterrichtung der Ausschüsse vor und fordern erneut seinen Rücktritt. Von Stahl rechtfertigt weiterhin sein Schweigen aus „fahndungstaktischen“ Erwägungen. Das Thema „dritter Mann“ bleibt auch vor dem Ausschuß tabu. Von Stahl erklärt die von ihm zuvor abgegebenen, widersprüchlichen Aussagen mit Fehlinformationen, die er vom Bundeskriminalamt (BKA) erhalten habe. Die Anzahl der in Bad Kleinen eingesetzten Beamten wird nach oben, auf rund 50 Mann vor Ort, korrigiert.
Am Samstag berichtet das Nachrichtenmagazin Spiegel schließlich über einen weiteren Zeugen. Der bei dem Einsatz anwesende Polizist sagt aus, ein GSG-9-Kollege habe den bereits am Boden liegenden und wehrlosen Grams aus nächster Nähe durch Kopfschuß getötet, regelrecht hingerichtet. Die Schweriner Staatsanwaltschaft, die bis zu diesem Zeitpunkt immer noch keinen der GSG-9-Beamten vernommen hat, leitet ein Ermittlungsverfahren gegen die Polizisten ein. Der „dritte Mann“, so das Nachrichtenmagazin, sei ein V-Mann des Verfassungsschutzes in Rheinland- Pfalz, der in der Szene als „Klaus aus Wiesbaden“ bekannt ist.
Die GSG-9-Beamten beteuern nach mehrmaliger Befragung auch am Sonntag, daß keiner von ihnen einen Nahschuß auf Grams abgegeben hat. Wie bei den früheren Befragungen wird nicht klar, wer die Mitglieder der Grenzschutzsondereinheit befragt hat. Staatsanwälte waren es nicht. Eine Woche nach der Schießerei schließen die Behörden, auch die Staatsanwaltschaft in Schwerin, einen Selbstmord von Grams aus. Von einem Dum-Dum-Geschoß, mit dem Grams den Polizisten erschossen haben soll, ist auch nicht mehr die Rede. Das BKA erklärt, der beerdigte Beamte sei von vorne durch die Brust mit einem im Leichnam steckengebliebenen Teilmantelgeschoß tödlich verletzt worden. Die Forderungen nach einem Rücktritt der Herren von Stahl und Seiters werden lauter, am Abend tritt Seiters zurück.
Am Montag, den 5.7., setzt sich die Liste der Ungereimtheiten fort. Wie die Bild-Zeitung unter Berufung auf ein Protokoll des Innenausschusses berichtet, hat das Bundeskriminalamt selbst keine genauen Kenntnisse über den tödlichen Schuß auf Grams gehabt. Zitiert wird ein Einsatzleiter mit den Worten: „Wir haben von der GSG9 her keine Darstellung, keinen Verlaufsbericht.“ Wolfgang Gast
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