: Aufklärung anderer Art
■ Der Modellversuch zur Suchtprävention an zwanzig Kreuzberger Schulen läuft Ende des Jahres aus / Ungewisse Zukunft für ein Projekt ohne Aufklärung von oben
Wenn die 15jährige Marina* nicht mehr weiter weiß, fängt sie an, viel zu essen, und setzt sich vor den Videorekorder. Mario* zieht es mit seinen 16 Jahren vor, über einen erhitzten Aluminiumstreifen Heroinrauch zu inhalieren. 13jährige rauchen auf dem Schulhof Zigaretten oder Hasch, bei Gewalttaten Jugendlicher ist fast immer Alkohol im Spiel. Seit sechs Jahren versuchen die KontaktlehrerInnen eines Kreuzberger Modellprojekts, zu gefährdeten Jugendlichen Kontakt aufzunehmen. Weniger durch Aufklärung von oben oder theoretisierende Beratungen als durch Gruppenangebote und persönlichen Kontakt will das Projekt zur Suchtprävention an Schulen (PfPS) bereits an Vorformen süchtigen Verhaltens arbeiten.
Doch was aus dem Modellversuch, der seit sechs Jahren an den zwanzig Kreuzberger Oberschulen läuft, nach Ablauf dieses Jahres werden soll, weiß noch niemand. Derzeit sind insgesamt 70 LehrerInnen an ihren Schulen mit zwei bis acht Stunden freigestellt, um Gespräche, Hausbesuche und Gruppenangebote anzubieten. Ein dreiköpfiges Bezirksteam ist für Koordinierung, Supervision und Fortbildung zuständig.
Die Schulverwaltung, die die Stellen bisher bezahlte, ist zwar am Fortgang der Arbeit interessiert. „Aber wir haben nicht nur in Kreuzberg Jugendprobleme“, so Oberschulrat Hubertus Fedke. Er will die Suchtprävention an Schulen auf möglichst viele Bezirke ausdehnen. Da das Abgeordnetenhaus dafür wohl nicht mehr Gelder bewilligen wird, müßten vorhandene Ressourcen anders genutzt werden. Das Projekt solle mit veränderten Ansätzen weiterarbeiten, mit weniger Einzelfallarbeit und mehr Gruppendynamik etwa. Wenn Kreuzberg Wert darauf lege, das Projekt in der Intensität weiterzuführen, müsse der Bezirk es selbst finanzieren.
„Das können wir gar nicht“, sagt der Kreuzberger Volksbildungsstadtrat Dirk Jordan (Grüne/AL). Er hält die Ausweitung auf möglichst viele oder gar alle Bezirke für falsch. Präventive Arbeit, die die gefährdeten Jugendlichen stabilisiere, sei so nicht möglich. „Da bliebe pro Schule vielleicht noch eine Schulstunde übrig.“ Er kann sich allenfalls eine Ausweitung auf die von harten Drogen am stärksten betroffenen Bezirke, nämlich Charlottenburg, Tiergarten, Schöneberg und Kreuzberg, vorstellen. Wenn der Senat eine Ausweitung auf östliche Bezirke wünsche, solle er den dort vorhandenen Lehrerüberhang nutzen und davon weitere Stellen für die Suchtprävention einrichten.
Roland Voigtel, Psychologe im Koordinierungsteam, steht den Diskussionen skeptisch gegenüber. Das Team könne nicht an allen Berliner Oberschulen Suchtpräventionsprojekte betreuen. Vor allem würden die Ausweitungen den besonderen Ansatzpunkt zerstören. „Wir machen ja nicht Aufklärungsgeschichten im alten Stil“, sagt Voigtel. Vielmehr gehen die KontaktlehrerInnen auf sozial auffällige Kinder zu. Schon ehe Suchtmittel gebraucht werden, versuchen sie, auf Probleme und Lebensthemen der Jugendlichen einzugehen. Sie verstehen Sucht als „ausweichendes Verhalten“, so Voigtel, als Versuch, das Körpergefühl bei unerträglichen Spannungen zu manipulieren. „Wir setzen also bei dem Betäubungserlebnis an und nicht am Stoff.“
In den angebotenen Klassen- und Gruppengesprächen können die SchülerInnen die Themen wählen, egal ob es um Drogen, Sexualität, Gewalt, Videos oder Banden geht. Aber auch Theatergruppen, Schülerzeitungen und Graffiti- Workshops werden organisiert, um Möglichkeiten für Kommunikation und Selbstbestätigung zu schaffen. Als beispielsweise eine Gruppe von Schülerinnen lernte, Kosmetika selbst zu mixen, bot das reichhaltigen Anlaß, über Schönheitsideale, Ökologie und Erwartungen an das Leben zu sprechen. Andere Gruppen organisieren drogenfreie Klassenfeste oder erkunden die Freizeitangebote in der Umgebung. Corinna Raupach
* Namen von der Red. geändert
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