: Osteuropäischer Grenzübergang
Vom Versuch, die ukrainische Grenze zu überqueren. Von geschlossenen Fahrkartenschaltern, bulgarischen Händlern und russischen Bonbons ■ Von Keno Verseck
„Stoj!“ heult der ukrainische Grenzer auf, „hier kommen Sie nicht durch!“ Sein Russisch ist perfekt, seine sowjetische Uniform echt. Er blickt mürrisch und mißtrauisch drein. Und dazu hat er auch allen Grund: Denn was macht ein unschwer zu erkennender Ausländer im westlichsten Zipfel der Ukraine nachts auf einer Landstraße voller Schlaglöcher? Warum will er um diese Zeit und an diesem Ort die ukrainisch-ungarische Grenze überschreiten? Der Wind peitscht Regen durch die Sommernacht. Es gibt weiß Gott gemütlichere Orte. Aber es ist besser, das nicht zu sagen. Es ist besser, höflich um einen Ratschlag zu bitten, wie die Grenze zu überqueren sei. Der sowjetukrainische Grenzer knurrt: „Zu Fuß ist es verboten, such' dir einen, der dich im Auto mitnimmt, verdammt!“
Ein paar Typen lungern vor dem hölzernen Schlagbaum herum, auch sie warten darauf, daß irgend jemand sie mit über die Grenze nimmt. Doch die klapprigen Autos mit den sowjetischen Kennzeichen sind voll. Keine Chance. Immer sitzt da einer mehr drin als erlaubt. Bei jeder Unebenheit schleift der Auspuff auf dem Asphalt. In der Schlange steht ein Ungar, er ist allein in seinem Lada Niva. Ich frage ihn auf ungarisch, ob er mich mit über die Grenze nehmen kann. Er kurbelt die Scheibe zwei Zentimeter herunter und mustert mich: „Russe?“
„Nein, wieso? Deutscher, aus Budapest.“
„Na, okay“, meint er und nickt mit dem Kopf, „steig ein!“ Er steht an dritter Stelle in der Schlange und flucht wegen der grundlosen Warterei. Vom dritten Platz aus dauert es noch eine Stunde, bis der Grenzer den hölzernen Schlagbaum hochhebt.
Beim Griff nach dem Reisepaß fährt mir der Schreck bis in die Zehen. Er ist nicht mehr da, da hilft auch kein hektisches Suchen. Zu dem Ungar sage ich: „Mist, mein Paß ist im Zug.“ Er zieht ein Gesicht, als habe ihn jemand reingelegt. „In welchem Zug?“ – „Ist doch klar“, sage ich, „in dem nach Budapest.“ Klar ist die Geschichte jedoch weder dem Ungarn noch den Ukrainern. Ich muß aussteigen, der hölzerne Schlagbaum senkt sich, und immer noch bin ich in der Ukraine.
Rückblick: Der Bahnhof im ukrainischen Lviv (Lemberg) ist das Tor zum Westen. Von hier aus fahren Züge ins fünfzig Kilometer entfernte Polen oder in die etwas weiter gelegene Slowakei. Es gibt Züge nach Budapest im Südwesten, und nach Bukarest und Sofia im Süden. Aber es gilt sowieso alles als Westen, was nicht in den Osten zurückführt.
Wo die Reisenden die Fahrkarten aufgetrieben haben, bleibt ihr Geheimnis. An den Bahnhofsschaltern in Lemberg werden für diese Routen jedenfalls keine verkauft. Schließlich erhalte ich einen Tip: Schalterbeamte verkaufen absichtlich keine Fahrkarten und werden dafür von den Zugschaffnern an den Bestechungssummen beteiligt, welche diese für einen Platz von Reisenden kassieren, denn – Fahrkarten gibt es ja keine. Auch der deshurny, der diensthabende Waggonschaffner im Zug Moskau – Budapest hat dieses Prinzip begriffen. Für zwanzig Dollar, mehr als sein üblicher Monatslohn, teilt er mir einen Platz bis Budapest zu – selbstverständlich ohne Quittung. Die Ausweise werden, wie auch in nach-sowjetischen Zeiten für Auslandszüge üblich, bei ihm hinterlegt.
Im Abteil sitzen noch zwei – ebenfalls quittungslose – Bulgaren und bereiten sich auf die Grenze vor. Theoretisch sind sie Gastarbeiter, Monteure auf einer Großbaustelle, praktisch jedoch Unternehmer, Branche: grenzüberschreitender Kleinhandel. Sie breiten ihr Warenangebot aus, das von Zahnpasta über Süßigkeiten, Zigaretten und Kinderschuhe bis hin zu Werkzeug reicht, um es dann in ihrem Gepäck möglichst unauffällig zu verteilen, auf daß es den gestrengen Blicken der Grenzer entgehe. „Mit dem ganzen Zeug“, meinen sie, „kannst du auf dem Russenmarkt in der ungarischen Grenzstadt Záhony harte Forints verdienen.“ Das stimmt garantiert: Viele Ungarn, vor allem im ärmeren Ostungarn, versorgen sich vorzugsweise auf den Schwarzmärkten, wo billige Ostwaren angeboten werden. Die Prozedur des Umpackens nimmt geraume Zeit in Anspruch, während derer die Bulgaren eine Tüte billiger russischer Bonbons anbrechen und einen nach dem anderen auflutschen. Sie rechnen. Das können sie sich noch leisten.
An der Grenzstation Čop wird die Tür aufgerissen. „Fahrkarten!“ schreit ein Kontrolleur, hinter ihm steht, hilflose Grimassen schneidend, der deshurny. Der Kontrolleur hat schon an unseren verlegenen Mienen erkannt, was los ist, und schreit weiter: „Na, also dann raus, dawai, dawai, Fahrkarten gibt's auf dem Bahnhof!“ Der deshurny entschuldigt sich. Die Hälfte der Dollars gibt er zurück.
In der Čoper Bahnhofsbaracke liegen Hunderte von Leuten und blicken müde um sich. Nach ihren vollgestopften Kartons und Tüten zu urteilen, scheinen auch sie „geschäftlich“ unterwegs zu sein. Soldaten bewachen die Gepäck- und Menschenhaufen mit angewiderten Mienen. Nichts weist darauf hin, daß man von hier irgendwann irgendwie nach Ungarn einreisen kann. Der Fahrkahrtenschalter öffnet morgens um zehn. Es ist acht Uhr abends. Die Frage, warum dann keine Fahrkarten verkauft werden, muß der Frau am Informationsschalter wohl außerordentlich frech vorkommen. Zur Strafe knallt sie ihr Fensterchen zu und zieht die Gardinen vor. Geschlossen. Es gibt keinen Grund, nirgendwo. Wie früher.
Als schnellste Möglichkeit scheint so der Autogrenzübergang zu bleiben: da zu Fuß hinüber, dann zum ersten Bahnhof auf ungarischer Seite. Ein Mann fährt mich für ein paar Mark in seinem verrosteten Lada hin. Er fragt nach den Preisen in Ungarn und ob ich ihm eine Schwarzarbeit besorgen könne. „Hier ist nämlich nichts mehr zu machen, hier geht alles in 'n Arsch“, meint er kopfschüttelnd, „ich bezahl's auch, wenn ich bei dir schlafen kann.“ Ich gebe ihm meine Adresse. Der Mann fährt bis ans Ende der mehrere hundert Meter langen Schlange. Dann laufe ich im Regen auf jener Landstraße voller Schlaglöcher entlang, bis zum hölzernen Schlagbaum.
Es fällt den Grenzern sichtlich schwer zu glauben, wie jemand seinen Paß im Zug vergessen kann. Aber vielleicht hat der deshurny das Versäumnis vor der Weiterfahrt des Zuges doch noch bemerkt, vielleicht hat er den Paß bei den Grenzbehörden am Bahnhof abgegeben. Die Nachforschungen werden dauern, meinen die Grenzer und sagen, ich soll am Büfett warten. Dort werden für Rubel oder Kupons sendwitschy und napitok – ein gewöhnlich übel schmeckendes Getränk – annonciert, doch die beiden rundlichen, gelangweilten Damen hinterm Tresen schließen leider gerade. Die Verkäuferin in der nebenstehenden Pappmachébude namens „Duty Free Shop“ bietet von 0 bis 24 Uhr Dosenbier und Zigaretten für Dollars an. Aber wegen der Devisenknappheit der Reisenden steht auch sie nur angeödet herum.
Draußen vor der Grenzbaracke fährt von Zeit zu Zeit ein Autobus vor. Die Reisenden müssen samt ihrem Gepäck aussteigen und durch die Zollkontrolle in der Baracke marschieren. Die Grenzer stehen am Büfett, das für sie Sonderöffnungszeiten hat, bekommen ein napitok, ohne zu bezahlen, plaudern, lächeln, reißen Witze. Wenn eine Autobus-Gruppe hereinkommt, schlendern sie langsam hinüber – und langsam werden ihre Mienen immer finsterer. Dann zerwühlen sie Gepäckstücke, schreien, nehmen eine Stange Zigaretten, ein Paket Kaffee, Geldscheine verschwinden in ihren ausgebeulten Hosentaschen, dann lassen sie die Betrogenen zurück, die sich schweigend und traurig ducken. Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz: Wer sich der Erpressung verweigert, wer widerspricht, der riskiert, nicht ausreisen zu dürfen oder hohe Summen Zoll bezahlen zu müssen. Nach vier Stunden Warten schicken mich die Grenzer zurück zur fünf Kilometer entfernten Bahnstation: Tatsächlich hat der deshurny dort meinen Paß auf der Bahnstation abgeliefert. Also mache ich mich wieder auf den schlaglöchrigen Weg durch die ukrainische Nacht.
Auf der Station wird mir der Paß ausgehändigt. Es ist drei Uhr morgens, noch sieben Stunden, bis der Fahrkartenschalter öffnet. Ich lasse es noch einmal auf einen Versuch ankommen, das Stück Papier zu kaufen. Ein Russe und seine Freundin schließen sich mir an.
Gemeinsam dringen wir durch einen Seiteneingang in die geschlossenen Verkaufsschalter vor. Das kaffeetrinkende Personal reagiert zunächst nicht, schreit dann los und schlägt schließlich die Türen zu. Nach hartnäckigen Diskussionen willigt eine Beamtin schließlich ein, gegen Devisen Fahrkarten nach Budapest auszustellen. Sie verlangt unsere Pässe. Als sie sieht, daß meine beiden Begleiter sowjetische Pässe haben, sagt sie: „Tut mir leid, Sie bekommen keine, Sie sind Russen.“ Der Mann erwidert, er würde ja auch in Dollar bezahlen, doch die Beamtin schreit: „hab' ich mich nicht deutlich ausgedrückt, also raus!“ Kein Argument hilft. Die Beamtin füllt meine Fahrkarte aus.
Auch die nächste Schwierigkeit kann nur dank des deutschen Passes schnell überwunden werden. In den Zollraum, durch den die Reisenden gehen müssen, bevor sie in den Zug steigen, wird nur eine bestimmte Anzahl Menschen gelassen. Wenn der Raum voll ist, schließt ein Beamter die Türen. Dann müssen die Leute auf den nächsten Zug warten. Doch der Türenschließer-Grenzer winkt mich herein, als er den deutschen Paß sieht.
Der Raum ist hoffnungslos überfüllt. Viele Reisende sind seit Stunden hier. Sie erzählen, woher sie kommen – aus Moskau und Sankt Petersburg, aus Odessa und Kiew, aus Wolgograd und Nishni Nowgorod, 500, 1.000, 1.500 Kilometer weit weg. Tauschen Informationen über die Bedingungen auf den „Russenmärkten“ in Záhony, Nyíregyháza und Debrecen aus. Dort verdienen sie an einem Tag mehr als monatlich in einem einheimischen Betrieb.
Durch die Glastür ist der Zug zu sehen. Von Zeit zu Zeit fangen die Leute an zu drängeln, weil es endlich loszugehen scheint. Als die Glastür zum Bahnsteig endlich geöffnet wird, gibt es kein Halten und keine Freundschaften mehr. Die Leute stürmen los. Sie schreien sich an, stoßen sich gegenseitig zu Boden, prügeln sich und steigen durch die Fenster in die Waggons. Bis dann der Zug so voll ist, daß sich niemand mehr bewegen kann.
Als er langsam losfährt, verhallt das aufgeregte Stimmengewirr. Bei Sonnenaufgang passieren wir die ungarisch-ukrainische Grenze, da stehen noch die eisernen Zäune in mehreren Reihen. Soldaten, die an der Theiß patrouillieren, schauen hoch zum Zug, in dem tiefes Schweigen herrscht. In Záhony steigen fast alle Leute aus. Ungarische Grenzer laufen durch den wie ausgestorbenen Zug.
Langsam zieht empfindliche Kälte ins leere Abteil. Die Heizung funktioniert nicht. Bis die Sonnenstrahlen richtig wärmen, dauert es noch. Auf dem Gang steht ein Ungar, der sagt zu seiner Frau: „Na, nun sind diese Tiere ja endlich ausgestiegen.“
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