piwik no script img

Die vergessenen Gefangenenlager Bosniens

■ Die Kriegsparteien halten in 46 Lagern und Gefängnissen 3.500 Menschen gefangen

Im Herbst letzten Jahres sorgten die inhaftierten Zivilisten und Soldaten in Bosnien-Herzegowina weltweit für Schlagzeilen und eindrückliche Fernsehbilder. Viele Menschen fühlten sich an die Konzentrationslager der Nazis erinnert. Inzwischen ist das öffentliche Interesse auch an diesem Aspekt der bosnischen Katastrophe zwar erheblich zurückgegangen, das Problem aber keineswegs beseitigt. Keine der drei Kriegsparteien erfüllte bis heute ihre Zusage, sämtliche Gefangene umgehend und ohne Vorbedingungen zu entlassen.

Ende Juni waren nach Informationen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Genf in Bosnien noch über 3.500 Menschen in 46 Lagern und Gefängnissen inhaftiert, „gewöhnliche Kriminelle“ nicht mitgezählt. Von der Existenz weiterer Lager vor allem in unmittelbarer Nähe der diversen militärischen Frontlinien, zu denen internationale Beobachter keinen Zugang hatten, wird beim IKRK ausgegangen.

Vermutlich wird nie mehr genau festgestellt werden, wie viele Menschen seit Kriegsbeginn Anfang April 92 insgesamt inhaftiert wurden, und wie viele in Lagern umgebracht wurden oder spurlos verschwanden. Seit Beginn seiner Bosnien-Operation im Mai 92 erhielt das IKRK Zugang zu rund 90 Lagern und registrierte knapp 12.000 Menschen, die während der Kämpfe zwischen serbischen Truppen und der inzwischen zerbrochenen muslimisch-kroatischen Allianz inhaftiert wurden. Seit im April dieses Jahres in Zentralbosnien die Gefechte zwischen Kroaten und Muslimen eskalierten, registrierte das IKRK in dieser Region 3.000 neue Gefangene.

Auf Basis einer vom IKRK vermittelten Vereinbarung zwischen den drei Kriegsparteien vom 1. Oktober 92 wurden bis zum Dezember 5.540 Gefangene unter IKRK-Aufsicht freigelassen. Bis auf 115, die in Bosnien bleiben wollten, wurden sie in Kroatien und in westeuropäischen Staaten als Flüchtlinge aufgenommen. Außerhalb der IKRK-Verfahren kamen weitere 3.000 Menschen frei. Für 1.300 der seit April in Zentralbosnien neu registrierten 3.000 Inhaftierten konnte das IKRK die Freilassung durchsetzen. Die dem IKRK bekannten Lager werden regelmäßig von den MitarbeiterInnen der Organisation besucht. 26 von ihnen kontrolliert die bosnische Regierung, hier sind 1.300 Menschen inhaftiert. Fünf Lager befinden sich in Sarajevo, weitere in Mostar, Bihać, Goražde, Tuzla, Zenica, Kiseljak und Bjelog Polje. Das mit 251 Insassen größte Lager ist in Zenica. Die Kroaten halten 1.008 Gefangene an neun Orten, darunter allein 509 in Mostar sowie 238 in Rascani fest.

In den elf von den Serben kontrollierten Lagern befinden sich 1.200 Gefangene, darunter 785 in Batković. Weitere Lager und Gefängnisse befinden sich in Banja Luka, Zvornik, Visegrad und Kula Butmir bei Sarajevo. In Mali Logor bei Banja Luka unterhalten die Serben auch das derzeit einzige Lager in Bosnien, über dessen Existenz das IKRK zwar informiert ist, zu dem es bisher jedoch keinen Zugang erhalten hat.

Keine Kriegspartei erfüllt bislang die in der Genfer Konvention enthaltene und in der Vereinbarung vom Oktober 92 noch einmal unterzeichnete Verpflichtung, dem IKRK regelmäßig Listen mit den Namen der Inhaftierten sowie den Lagerorten zu übermitteln. Zu einer Reihe von Orten, an denen Lager vermutet werden, verweigern lokale Behörden und Milizführer den IKRK-Delegierten zumeist unter Berufung auf „Sicherheitsgründe“ den Zugang. Trotz dieser Einschränkungen sind die für Bosnien zuständigen MitarbeiterInnen in der Genfer IKRK- Zentrale „sicher“, daß es zumindest heute in Bosnien keine unbekannten Lager mit tausend oder mehr Inhaftierten gibt. In den neu entstehenden Lagern entlang der militärischen Front seien derzeit insgesamt „zwischen einigen hundert und maximal zwei- bis dreitausend Menschen inhaftiert“. Andreas Zumach

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen