: Der Onkel läßt das Mausen nicht
■ „Das Familienalbum“, ein Bilderbuch zu sexuellem Mißbrauch an Kindern / Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreisträger
Nießchen mag Geheimnisse. Vor allem die ihrer Schwester Pisa, die meistens von versteckten Zuckervorräten handeln. Nießchen weiß jetzt aber, daß es solche und solche Geheimnisse gibt. Die Geheimnisse von Onkel Watja sind welche, die sie eigentlich überhaupt nicht mag. Weil das Geheimnisse sind, über die Nießchen lieber reden würde, aber nicht reden kann. Nießchen bleibt stumm.
Zusammen mit Pisa, Mama, Papa und Onkel Watja wohnt Nießchen in einem großen alten Sofa. Eine ganz normale Mäusefamilie, die ein schönes Familienalbum hat. Eine Familie, in der gespielt, getobt, gestritten und gelacht wird, wo das Kuscheln und Schmusen, das Zärtlichsein dazugehört. Mama Maus schlüpft zu Papa Maus unter die Decke, Nießchen und Pisa spielen Mutter und Vater und krankes Kind und bauen sich eine Höhle zum Knutschen. Nur Onkel Watja macht so komische Dinge. Nießchen ist unglücklich.
Zum ersten Mal schlagen zwei deutsche Autorinnen das Thema sexueller Mißbrauch an Kindern im Bilderbuch auf: „Das Familienalbum“ von Sylvia Deinert und Tine Krieg — illustriert von Ulrike Boljahn - ist im Januar diesen Jahres bei Lappan in Oldenburg verlegt worden, kurz nachdem es mit dem Oldenburger Kinder- und Jugenbuchpreis ausgezeichnet worden war. Dieser Preis fördert Erstlingswerke, um neuen Kinder- und Jugendbuch-AutorInnen den Einstieg ins Buchgeschäft zu erleichtern oder überhaupt erst zu ermöglichen. Auch „Das Familienalbum“ lag dazu noch in Manuskriptform vor.
Dabei ist die Geschichte des „Familienalbums“ lang. Seit 1984 haben es die Hamburger Pädagoginnen und Künstlerinnen Sylvia Deinert und Tine Krieg als Puppentheaterstück für Kinder ab acht Jahren gespielt. „Es hat eine Weile gedauert, bis wir die Abschottung der Erwachsenen durchbrochen haben und mit unserem Stück an die Kinder herangekommen sind“, erzählt Tine Krieg. „Gerade zu Anfang bekamen wir oft zu hören: 'Kommt wieder, wenn Ihr was Nettes habt'. — Wir waren wohl zu früh dran mit dem Thema.“
Daran hatte sich noch nichts geändert, als die beiden Autorinnen zusammen mit der Kunstpädagogin Ulrike Boljahn vor zwei Jahren auf Verlagssuche für „Das Familienalbum“ gingen. Viele scheuten vor einer Veröffentlichung zurück. Auch die Lappan-Verleger haben ausdauernd diskutiert, haben eine Sozialpädagogin, eine Kinderbuch-Autorin und eine Kriminalbeamtin zu Rate gezogen - und sich schließlich für das Buch entschieden. Jetzt reiht es sich dort ein in ein Bilderbuch-Programm mit einer Vielzahl von anspruchsvollen, aufregenden und unkonventionellen Titeln.
Struktur und Dramaturgie des „Familienalbums“ sind im Buch bestehen geblieben. Onkel Watja nötigt Nießchen zu heimlichen Intimitäten und erpreßt sie mit der Drohung, ihr Bild aus dem Familienalbum zu reißen. In Nießchen tobt die Angst vor dem Riß.
Spielerisch werden die Kinder zunächst hierangeführt: Den Familienalltag kennen alle, und die Mäuse helfen außerdem, mit der nötigen Distanz ins Geschehen einzusteigen. Denn was sich da familienintern abspielt, ist häßlich und grausam.
Und macht Angst. Unverhältnismäßig wuchtig malt Ulrike Boljahn Onkel Watja in seinem purpurnen Mantel, seine Hände so groß wie das halbe Nießchen, seine Nase wie die eines Rüsselschweines. Klar und gefühlsstark sind die Komposition ihrer zweiseitigen Kreidetafeln. Kleine Erzählbilder und freche Details lassen immer mal wieder ein bißchen Raum zum Ausatmen und Luftholen.
Zum Schluß hin will die Spannung gar nicht mehr aufhören. Nießchen gerät auf der Flucht vor dem Onkel einem Kater in die Mausefalle. Der jedoch schnappt sich lieber den Watja. Nießchen vertraut sich der Mutter an. Onkel Watja wird aus dem Familienalbum verbannt und nie mehr gesehen.
Ein schneller Schluß, wie ein (zu?) kurzer Stoßseufzer, der den Kindern Hoffnung und Zuversicht vermittelt. Umso deutlicher dagegen zeigt der (gute) Kater, daß die Gefahr sexuellen Mißbrauchs keineswegs nur „von außen“ droht. Subtil und wirkungsvoll ziehen die Autorinnen die Beziehungsstränge innerhalb der kleinsten sozialen Einheit Familie nach.
Geschichten sind dazu da, erzählt zu werden oder zum Erzählen zu bringen. Vor allem bei einem Thema, das stumm macht. „Das Familienalbum“ lehrt zu vertrauen, auf das eigene Gefühl und den eigenen Widerwillen. Und hält Nischen bereit: Jedes Kind kann diejenigen Erfahrungen rausziehen, die es schon selbst gemacht hat. Vielleicht wird dieses Buch bei vielen im Regal landen, vielleicht reicht einmal vorlesen. Wichtig ist jedoch, daß „Das Familienalbum“ da ist, daß es jederzeit zur Hand genommen werden kann. Und wichtig ist es auch als Signal in Kindergärten, Buchhandlungen, Bibliotheken oder Arztpraxen. Lappan strebt bereits die zweite Auflage an, Ulrike Boljahns Zeichnungen sind für den internationalen Illustrationspreis von Bratislava nominiert. Silvia Plahl
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