: David, Goliath und Otto Grotewohl
■ Lange Geschichte einer kurzen Straße: Seit 1991 soll die Otto-Grotewohl-Straße Toleranzstraße heißen / Die SPD plädiert für Willy-Brandt-Straße, der Senat will den alten Namen Wilhelmstraße durchsetzen
Eigentlich geht es nur um 1.300 Meter holprigen Asphalt. Die führen vom Reichstagsufer am Brandenburger Tor vorbei zur Treuhandanstalt und heißen – noch – Otto-Grotewohl-Straße. Um den Namen der löchrigen Trasse tobt in Berlin seit mittlerweile fast drei Jahren ein Streit, der sich in seiner jüngsten Phase zum Aufgebot von David gegen den Senats-Goliath gesteigert hat. In dieser Woche holte Goliath mit den Waffen des Hauptstadtvertrages zum Vernichtungsschlag gegen den Bezirk Mitte aus, der sich auch durch den bevorstehenden Einzug der Bundesregierung in sein Territorium nicht in seinen Angelegenheiten beirren lassen will.
Die Geschichte beginnt mit der Vereinigung Deutschlands im Herbst 1990. Alle Straßen mit ideologisch belasteten Namen sollen umbenannt werden, darüber ist sich die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Mitte einig. Das klappt auch bei einem Dutzend Straßennamen zügig, bei der Otto- Grotewohl-Straße aber gibt es Krach. Während vor allem die CDU-Abgeordneten die Rückbenennung in den historischen Namen „Wilhelmstraße“ bevorzugen, schlägt die damals noch starke Fraktion des bürgerbewegten „Bündnis Mitte“ den Namen „Toleranzstraße“ vor. Weil eine gütliche Einigung nicht möglich ist, heißt die Straße zunächst weiterhin Otto-Grotewohl-Straße. Die Diskussion zieht sich bis in den Sommer 1991 hinein, dann wird abgestimmt und die „Toleranzstraße“ siegt.
Damit wäre die Geschichte auch schon zu Ende gewesen, hätten nicht einige der Verlierer Widerspruch eingelegt und diesen bis vor das Verwaltungsgericht getragen. Dort lag die Angelegenheit ohne Aussicht auf baldige Entscheidung, während die umstrittene Straße weiterhin nach Otto Grotewohl hieß. Als Pausenfüller verlegte die Treuhandanstalt inzwischen ihre Adresse um die Ecke an den Hintereingang in der Leipziger Straße, weil sie weder an der Otto-Grotewohl-Straße residieren mochte noch an der Toleranzstraße.
Dann starb Willy Brandt, und die SPD-Fraktion im BVV-Mitte hatte eine Idee. Und wirklich gelang es den Sozialdemokraten, die zerstrittenen Fraktionen mit Beschluß vom Dezember 1992 hinter den Kompromißvorschlag „Willy- Brandt-Straße“ zu vereinigen. Gebraucht wurde nur noch eine Ausnahmegenehmigung des Berliner Regierenden Bürgermeisters von der Regel, daß ein Namensgeber schon mindestens fünf Jahre tot sein muß. Dummerweise waren aber noch zwei andere Berliner Bezirke auf die Idee gekommen, Brandt mit einer Straße zu ehren, und hatten gleichlautende Anträge beim Senat eingereicht.
Im Bestreben, ein salomonisches Urteil zu fällen, wandte sich Eberhard Diepgen an die Witwe Brandts, die sich aber für keine der drei angebotenen Ehrenbezeugungen entschied, sondern vorschlug, man möge doch warten, bis das zukünftige Regierungsviertel erbaut sei, und dann dort eine repräsentative Straße auswählen. Wohl vor Verblüffung versäumte es Diepgen daraufhin, dem Bezirk Mitte einen Bescheid zu erteilen. Die BVV hatte inzwischen zwei demokratische Beschlußlagen – Toleranzstraße und Willy-Brandt-Straße –, von denen eine im Verwaltungsgericht festhing und die andere im Senat. Erneut senkt sich der Vorhang über eine unbehelligte Otto-Grotewohl-Straße.
Der Schicksalsumschwung hatte sich indessen längst hinter den Kulissen angebahnt. Mittlerweile gab es nämlich den Hauptstadtvertrag, der das im Bezirksverwaltungsgesetz verankerte Verfügungsrecht des Bezirkes über die Straßenbenennung für „regierungsrelevante Bezirke“ einschränkt und dem Zustimmungsvorbehalt des Senats unterstellt. Auf tritt also Anfang Juni der Verkehrssenator Haase (CDU) mit dem Befehl an den Bezirk, die Straße umgehend in – „Wilhelmstraße“ umzutaufen: den einzigen Namen also, für den es gerade keine Beschlußlage gibt.
Bestürzt weist man im Bezirksamt auf diesen Umstand hin und auf die Tatsache, daß sich die Bezirksverordneten in der Sommerpause befinden und erst Mitte August wieder zusammentreten. Wieder vergehen einige Wochen. Am Donnerstag dieser Woche teilte der Verkehrssenat dann mit, angesichts der „Verweigerungshaltung“ des Bezirks habe man das Verfahren an sich gezogen. „Noch in dieser Woche werden alle Anwohner der Wilhelmstraße informiert“, heißt es in der Mitteilung, und noch im Juli werde die Rückbenennung im Amtsblatt von Berlin verkündet.
Der während der Urlaubszeit amtierende Bezirksbürgermeister Dankwart Brinksmeier (SPD) ist fassungslos. Juristisch könne der Bezirk gegen diesen Putsch nichts ausrichten, meint er, aber öffentlich werde man klarzumachen wissen, daß hier demokratische Entscheidungen gewählter Volksvertreter im Handstreich hinweggefegt werden. Der Bürgermeister ist zuversichtlich, daß der Stein die Stirn des Riesen treffen wird. Susanne Güsten (AFP)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen